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Wenn Statisten fallen

Jules-François S. Lemarcou
„Um klar zu sehen genügt oft schon ein Wechsel der Blickrichtung“, lehrte uns einst Antoine de Saint-Exupéry.
Und, haben Sie schon einmal den Film "Rambo" gesehen? Sahen sie klar? Dieser Ego-Shooter hat viele Verwandte im Filmgenre und allen ist Ihnen gemeinsam: Ein physisch überlegender Held – geistige Fähigkeiten sind oft so unattraktiv wie die meisten ihrer Darsteller und verprellen das Publikum an den Kinokassen – kämpft sich durch ganze Legionen von Gegnern, drischt sie nieder oder löscht sie gleich mit den Feuerstößen aus seiner Maschinenpistole aus. Damit es abwechselnd wirkt, darf auch ab und an mal eine Handgranate zu den Bösen fliegen. Bud Spencer machte es vor, Tausende folgten. Der Dicke schlug wenigstens nur ermüdend oft zu – die anderen machen es für nicht weniger als die totale physische Vernichtung des Feindes. Den aber muss ja nun auch irgendwer mal darstellen. Das ist dann die Aufgabe der namenlosen Statisten, die sich während des Drehs wieder und wieder in den Dreck werfen dürfen – für ein paar Dollar die Stunde. Der Held ist nach der letzten Klappe immer um ein paar Millionen reicher.
Wenn man im Fernsehen schon alles gesehen hat, dann beginnt man Filme mit den Augen von Amélie zu sehen. Das wäre dann der von Saint-Exupéry geforderte Wechsel der Blickrichtung. Sie erinnern sich doch der hübschen Pariserin Amélie, die ohne Gewalt und mit nur sehr verhaltener, dafür aber unglaublich knisternder Erotik vor zehn Jahren ein Millionenpublikum in ihren Bann zog? Sie interessierte sich im Kino für die Dinge auf der Leinwand, die sonst kaum jemand wahrnahm. Es verhält sich ja beim gemeinen Kinogänger und Filmkonsumenten wie mit jedem braven Verbraucher, der auch getrost als Kuh hätte zur Welt kommen können. Wir verweisen auf jenes erkenntnispsychologische Experiment, während dessen eine Gruppe von Probanden in einer Turnhalle aufgefordert wurde, die Bälle zu zählen, die sich zwei Mannschaften gegenseitig zuspielten. Manche sind bei der Nennung der Anzahl der Ballwechsel erstaunlich nahe am wahren Ergebnis. Nur den Gorilla, der permanent durch den hinteren Bereich der Turnhalle flitzte, den nahmen nur ganz wenige Auserwählte wahr. Uns aber beschäftigt eben jener Gorilla. Uns beschäftigt die Rolle, welche die Statisten auszufüllen haben, bzw. wie diese Rolle vom Zuschauer bewertet wird. Der Statist, der einen Teil des gegnerischen Truppenkontingents verkörpert, hat einen Auftritt von nur wenigen Sekunden. Er bewacht meist ein Lager, ein Gebäude oder was auch immer, welches der Held erstürmen muss. Also: Feuerstoß, der Statist kippt um, der Held rennt über ihn hinweg. Wen hat er da eigentlich umgenietet?
Hat fünfundzwanzig Jahre früher eine junge Frau vor Glück geweint, als sie ihren kleinen, neugeborenen, quäkenden Juanito in den Armen hielt. Hielt sie besorgt Ausschau, wenn Juanito verdreckt aber glücklich zehn Minuten später vom Spielen mit seinen Freunden nach Hause kam, als er sollte? Freute sie sich über sein Zeugnis und darüber, wie er ihr sagte: Mama, wenn die scheiß zwei Jahre Militärdienst um sind, gehe ich auf die Ingenieurhochschule und lerne den Beruf eines Geologen? Und wenn ich dann bei einem Ölkonzern untergekommen bin, dann hole ich Papa, Dich und Oma, zu Livia und mir?
Livia ist seine rassige, bildhübsche Verlobte, die Juans Militärdienst genauso verflucht. Jeden Morgen reißt sie dem Postboten ungeduldig jeden seiner Briefe aus der Hand. Sie weiß, dass ihre Große Liebe Juan ist. Er, der Krauskopf mit den schwarzen Augen, in die sie sich so gerne fallen lässt, in denen sie träumend versinkt, er, der Ruhige, Besonnene, der Zielstrebige, der gütige Juan mit dem kullernden Lachen ist der Glücksfall, der Sechser im Lotto ihres Lebens. Aber sie wird dem Postboten keine Briefe mehr aus der Hand reißen können. Er kann ihr keine mehr bringen. Juan – so hieß der bislang namenlose Soldat, den der Statist spielte und dessen Name in keinem noch so langem Abspann auftaucht, ist tot. Er war nur ein namenloser Komparse, unwichtig, ein menschlicher Pappkamerad, 25 Jahre lang großgezogen von einer Mutter nur für diesen einen Augenblick. Erschossen von einem gewissen John Rambo, der mal eben in ein Militärlager oder in ein Gebäude eindringen musste. Das ist alles, was wir zu sehen bekommen, wenn wir fernsehen. Weder Drehbuchschreiber, Regisseur, noch Kameramann zeigen uns Juan und Livia Hand in Hand durch ihr Dorf gehen. Sie verweigern uns das Bild von Juans Oma, deren ganzer Stolz Juan immer war. Sie zeigen uns nicht den Vater des Soldaten, der, wenn er abends vom Feld heimkam, dem Jungen noch ein selbst geschnitztes Holzpferdchen mitbrachte oder ihm half, seine erste Seifenkiste zusammenzubauen. Warum tun sie das nicht? Liegt doch auf der Hand, oder? Plötzlich würden wir Mitgefühl mit einem bekommen, der doch ein guter Mensch ist und nicht nur ein anonymer Uniformträger. Einer mit dem wir selber gern befreundet wären, den wir zu Weihnachten unter unseren Tannenbaum einladen würden. Wir würden John Rambo hassen, diese hirnlose Gewaltmaschine, die vorgibt, irgendwelche armen Kriegsgefangenen zu befreien. Was gehen die uns denn an? Kennen wir die? Wissen, wir, wer der Neger Lucius C. Mattner jr. war, den das Wehrkreiskommando zum Dienst in der Army presste, obwohl er sich aus der Bronx heraus gelernt hatte und eigentlich ein College besuchen wollte? Mattner geriet bei den Viet Kong in Kriegsgefangenschaft und muss nun von John Rambo herausgeholt werden. Keine Bange: Auch Mattner sehen wir kurz vor Ende des Films nur wenige Sekunden lang. Auch vor seinem Namen, seiner Biographie und seinen Träumen werden wir verschont. Es reicht, dass wir wissen, dass der Statist Mattner zu den Guten gehört. Der Handlungsstrang des Streifens soll nicht allzu kompliziert sein. Wir sollen uns ja treiben und seicht unterhalten lassen, nicht nachdenken müssen, uns nicht auseinandersetzen mit komplexen Aspekten, die unsere verschrumpelten Hirne nur unnötig schikanieren würden. Wir sollen nicht den Standpunkt wechseln, zu einer anderen Sichtweise gelangen, als die, welche die Filmproduzenten für uns vorgesehen haben.
Es wäre aber ebenso gut für uns, wie es schlecht für deren Geschäft wäre, wenn sich diese alternative Sichtweise verbreiten würde. Die Welt könnte dann ein Ort werden, an dem es sich ein gutes Stück besser leben würde. Doch seien sie beruhigt: Das wird nicht passieren. Dieselben Verhaltensforscher, die den Gorilla durch die Turnhalle laufen ließen, verraten uns auch, warum: Unsere Hirne, vor hunderttausenden Generationen in den Steppen Afrikas programmiert, sind nur auf eine kleine und überschaubare Anzahl von Menschen eingerichtet, welche die durchschnittliche Sippenstärke archaischer Nomaden- und Siedlerverbände widerspiegelt. Was darüber hinausgeht, wird anonymisiert. Das ist auch gut so, denn bis zum Beweis des Gegenteils ist der nicht zur eigenen Gruppe Gehörige der Feind. Ein Feind lässt sich aber leichter umbringen, wenn man seinen Namen nicht kennt, wenn sein Gesicht nur eine Sekunde lang zu sehen ist – das Gesicht, das uns viel von seinem Leben verraten könnte. Eine Beziehung zum Feind aufzubauen, ihm beginnen zuzuhören, ihn zu verstehen, das ist extrem kontraproduktiv für alle kalten und heißen Kriegstreiber. Zu denen zählen wir selbstredend die Macher solcher Gewaltfilme, die den gefühllosen und stumpfsinnig brutalen Umgang mit Mensch und Kreatur zelebrieren. Das Gesicht Juans, der sich nicht um das Wachestehen gerissen hatte, der Geologe werden wollte und sich auf das gemeinsame Kind freute, dem Livia in ein paar Monaten das Leben schenkt, würde den finanziellen Ruin des Films bedeuten. Es sei denn, der Statist darf noch den Todeskampf spielen, den Juan durchleiden muss, damit der verblödete Zuschauer wenigstens noch den Hauch eines „Thrill“ spürt. Was Lucius nun studieren will, interessiert ebenfalls wirklich niemanden. Ist doch scheißegal, oder? Was hat der überhaupt zu studieren, der Nigger! Darf doch froh sein, wenn er dank der übermenschlichen Kräfte und der Leidensfähigkeit des Protagonisten John Rambo wieder auf seine Bananenplantage zurück darf! Und da sage noch einer, wir wären rassistisch. Das Gegenteil! Sogar für Nigger reißt sich der Spaghetti-Yankee den Arsch auf!
Juan ist tot. Hat John Rambo ihn umgebracht? Ja, der auch. Aber in erster Linie waren wir es. Wir, die wir an der Kinokasse Geldscheine für ein Entreebillet hinlegen. Wir forderten seinen Tod, wie es die alten Römer im Kolosseum taten. Wir, die Nackten Raubaffen. Schauen Sie in den Spiegel und dann in ihren Personalausweis! Und fühlen Sie sich nicht zu sicher, weil dort zufälligerweise nicht Juan steht. Auch der Name Herbert, Wolfgang oder Peter schützt sie nicht davor, der nächste Statist zu sein, der umzufallen hat. Denn ob Rambo ein Guter und Sie ein Böser sind, ist eine Frage des Standpunktes. Und über den befinden die, welche an der Kinokasse anstehen.

18. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
28.01.2011