Baaks

zurück zum Landboten

 

Ein Bundestagsvizepräsident sitzt auf der Straße
Wolfgang Thierse setzt ein Zeichen

Zur Antwort des Herrn Bundestagsvizepräsidenten vom 02. Juno 2010

Michael L. Hübner
Darf er das – oder darf er nicht? Die Rede ist von Wolfgang Thierse, dem Wendeaktivisten, dem Bundestagspräsidenten bis 2005, dem gegenwärtigen Bundestagsvizepräsidenten. Der wehrte sich am 1. Mai in Berlin gemeinsam mit Gesinnungsfreunden mittels einer Sitzblockade gegen einen genehmigten Demonstrationszug der Neonazis.
Herr Thierse ist einer der ranghöchsten Repräsentanten der Bundesrepublik, Vizechef des Organs der Legislative schlechthin. Er verkörpert das Gesetz und das Gesetz, vertreten durch die örtlichen Gerichte, ließ die Nazis durch die Straßen Berlins laufen. Die Richter urteilten nicht nach Gusto, sie urteilten nach den Buchstaben des Gesetzes, eines Gesetzes, das notwendigerweise im Bundestag entschieden wurde, dem Bundestag, dem Herr Thierse stellvertretend vorsteht. Da beißt sich die Katze in den Schwanz – da wird die Sache schizophren. Ganze Rudel heulen seitdem im gequälten Chor: Das darf er nicht, das darf er nicht!
Er diskreditiere das Gemeinwesen, er plane die Revolution von oben, er untergrabe die Autorität des Staates an fürwahr exponierter Stelle...
Ja, wie ist das denn nun? Augenscheinlich haben diese Leute doch wohl recht, oder? Ich bin doch als Beamter meinem Staatswesen gegenüber zur Treue und zur Loyalität und zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, oder? Der Applaus und das zustimmende Nicken zu dieser Aussage kommt unter anderem aus einer Ecke, die uns gar nicht gefällt. Sie kommt aus dem Reich der braunen Schatten, aus dem Höllenpfuhl, in dem die Mörderseelen von Adolf Eichmann und Rudolf Höß braten, dienstbeflissene Charaktere, bar jedes Sadismus, versehen mit allerlei Sekundärtugenden, die wohl keinem Menschen etwas zuleide getan hätten, wäre es ihnen nicht höheren Ortes anbefohlen worden. Das nämlich war die Standardrechtfertigung der beiden Organisatoren der Judenvernichtung – der Befehl von oben. Befehl und Gehorsam. Je nun, aber genau deswegen wurde 1945 der Befehlsnotstand definitv abgeschafft. Kein Soldat, kein Beamter, kein Mensch ist seitdem verpflichtet, ja, es ist ihm nachgerade verboten, einen Befehl auszuführen, der sich gegen die allgemeinen Prinzipien der Menschlichkeit wendet. Das ist der Punkt!
Verstößt ein Demonstrationszug der Nationalsozialisten gegen die Prinzipien der Menschlichkeit? Selbstredend: Der deutsche Nationalsozialismus hat sich selbst in den zwölf Jahren seiner Herrschaft durch die Verantwortung für weit mehr als 60 Millionen Tote für alle Ewigkeit diskreditiert und sich selbst aus den Reihen der Menschheit ausgeschlossen. Ein bekennender Nationalsozialist kann also nicht auf den Schutz des Gesetzes einer Demokratie rechnen – es gilt nicht für sie. Schon einmal nutzten nämlich die Braunen ein solches Gesetz, das der Weimarer Republik nämlich – und verhöhnten es noch vor der Machtübernahme weidlich, wie aus den Tagebüchern des Dr. Goebbels hervorgeht. Ein Fehler wird erst dann ein Fehler, wenn man einen zweiten hinzufügt, pflegte der Brandenburger Arzt Dr. Lothar Hübner zu sagen. Da hatte er wohl recht. Fügt die deutsche Nachkriegsdemokratie diesem Fehler ihrer Vorgängerin einen weiteren gleicher Art hinzu, dann hat das nichts mehr mit einer überlegenen Moralvorstellung zu tun, sondern nur noch mit bodenloser Idiotie.
Das scheint Herr Thierse begriffen zu haben. Nun kann er sich schlecht hinstellen und die Nazis offiziell aus der menschlichen Gemeinschaft exkommunizieren. Das würde nicht funktionieren und nur ihm selbst das Genick und damit seinen Einfluss brechen. Denn, würde die Gesellschaft, die er repräsentiert, das zugeben, so entzöge sie sich die eigene moralische Existenzgrundlage und machte sich nicht nur mit der Denkart ihrer Gegner gemein, sondern böte diesen sogar ein weiteres legitimes Einfallstor.
Das geht also nicht. Was aber geht dann? Genau das, was Herr Thierse tat. Getreu dem christlichen Grundsatz: Du sollst Gott mehr gehorchen denn den Menschen, besinnt sich der Bundestagsvizepräsident darauf, dass er in erster Linie Mensch und Bürger ist, und dann erst Staatsdiener. Er stellt klar, dass an dieser Stelle ziviler Ungehorsam das Gebot der Stunde ist und macht der breiten Öffentlichkeit bewusst, dass, wenn die bestehenden Gesetze solchen Situationen offensichtlich nicht gewachsen sind, Courage durch alle, wirklich alle Schichten des Volkes hindurch gefordert ist. Damit unterminiert Wolfgang Thierse die Autorität dieses Staates nicht, er stärkt sie. Sein Sitzen auf einer Berliner Straße ist kein Aufruf zur Anarchie sondern hat einen ähnlichen Wert wie seinerzeit Willy Brandts Kniefall in Warschau. Er zieht das Gesetz nicht in Zweifel, sondern weist wirkungsvoll auf seine Schwächen und Lücken hin und er solidarisiert sich mit jenen, denen man sonst kein Gesicht und keine Stimme zubilligen würde. Er gibt ihnen sein Gesicht und seine Stimme. Das ist ehrenhaft, das ist anständig und das ist in der besten deutschen Tradition, die von Tauroggen bis zum 20. Juli reicht.
Ein christlich-demokratisch eingebundener Redakteur eines preußischen Blattes kann nicht anders, als vor dem Sozialdemokraten Wolfgang Thierse den Hut zu ziehen – von Demokrat zu Demokrat, von Nazigegner zu Nazigegner, von Mensch zu Mensch. Wolfgang Thierse gab der deutschen Sozialdemokratie etwas unbezahlbar Wertvolles zurück, indem er nach Willy Brandt sozusagen das 2:0 für sie schoss: Er gab ihr die Chance, von der etablierten Bonzenpartei den Weg zurück zur unangepassten Volkspartei zu finden, die eins ist mit den Menschen auf der Straße, ihre Sorgen und Probleme aufgreift und sich auch über jede Konvention hinaus für sie engagiert. Zum Zweiten zeigte Herr Thierse, wieviel unverbrauchte Kraft noch immer im Osten steckt, der selbst zwanzig Jahre nach der Wende vom Westen nicht assimiliert werden konnte. Tot ist die große Regine Hildebrandt – aber Wolfgang Thierse lebt noch und mit ihm der vitale Osten. Der, an dem der stupende, in toten Formen, in hirnlosen Phrasen und in einem unverbindlichen Geschäftslächeln erstarrte Westen abtropft. Sollte Deutschland noch eine Zukunft haben, dann liegt sie bei denen Reuters, Brandts, Hildebrandts und Thierses. Aus unseren christdemokratischen Reihen sind uns, Gott sei's geklagt, keine ähnlichen Beispiele bekannt. Wenn wir daher, die wir gesetzestreue konservativ denkende Preußen sind, etwas zu bedauern haben, dann, dass wir an diesem 1. Mai nicht neben ihm saßen, neben dem gegenwärtig wohl einzigen deutschen Politiker mit Herz, Courage und Charakter.

Zur Antwort des Herrn Bundestagsvizepräsidenten vom 02. Juno 2010

16. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
12.05.2010