Der späte Widerstand
zum 20. Juli 1944
B. St. Fjøllfross
Um den 20. Juli kommt der Preußische Landbote nicht herum. Doch
wenn die bürgerliche Historiographie mit ihrer tendenziellen Berichterstattung
dafür sorgt, dass der Eindruck entsteht, die Verschwörer des
20. Juli wären die einzigen gewesen, die Hitler und seinem mörderischen
System die Stirn geboten hätten, dann fühlen wir uns aufgerufen
laut nachzudenken. Andere saßen seit Anfang 1933 in den deutschen
KZ: Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen, Einzelkämpfer wie
Georg Elser...
Nein, es sind die Leute derer, die heute wieder das Sagen im ganzen
Reiche haben, die Vertreter des Adels und des Großbürgertums,
die am 20. Juli aufstanden und andere gesellschaftliche Kräfte
mit ins Boot holten. Deshalb jubeln die Bourgeoisen über den 20.
Juli – er dient ihnen als Feigenblatt, als Alibi, als Persilschein.
Über die Persönlichkeiten der Kämpfer des 20. Juli wollen
wir kein Wort verlieren, ihren Ruhm um kein Tüttelchen schmälern.
Sie haben vielfach das Kostbarste gegeben, das sie besaßen: das
eigene Leben. Vor ihnen schweigt jede Kritik.
Was wir aber zu bedenken geben, ist der Zeitpunkt des Widerstandes.
Es ist ein wenig wie das Eingreifen der Amerikaner in der Omaha-Beach.
Die Kommunisten brummen seit '33 im Lager, die Russen bluten seit '41,
aber in der Bundesrepublik werden die Amerikaner als Befreier und die
Verschwörer des 20. Juli als die Widerständler schlechthin
gefeiert. Da stimmt doch 'was nicht! Wo waren die Offiziers der Wehrmacht,
die sich am 20. Juli beteiligten, vor dem Untergang der 6. Armee in
Stalingrad? Haben sie sich nicht auch auf den Führer vereidigen
lassen? Haben sie nicht geholfen Polen zu überfallen und Russland
für die Einsatztruppen vorzubereiten? Es geht die Rede, die Junker
wären erst aktiv geworden, als klar war, dass der Krieg jetzt auf
ihre Güter getragen wird. Dass sie vorher schon über den Gröfaz
lästerten... wer mit Hirn und Verstand hätte das nicht getan!
Aber das Gerede hat keine einzige Kompanie von der Ostfront zurückgerufen,
keinem Ostjuden aus dem Stetl das Leben gerettet. 292 Tage vor dem Ende
wurden sie aktiv, da waren die Nazis bereits 4189 Tage am Ruder –
und erzähle niemand, die Leute, die zum Verschwörerkreis zählten,
hätten nicht lange vorher schon die Möglichkeit gehabt, die
Dinge zu wenden. Konzertiert haben sie ihre Aktion erst unter dem ungeheuren
Druck des Krieges, der unaufhaltsam nach Deutschland zurück rollte.
Nur blöde Fanatiker konnten zu diesem Zeitpunkt noch ernsthaft
an den Endsieg glauben. Das, genau das macht uns im Angesicht des 20.
Juli so nachdenklich. Und ganz ehrlich, diese Leute, so heldenhaft sie
sich in der Stunde des Attentates schlugen, so sehr unsere Sympathien
auch auf Seiten Ulrich Wilhelms Graf Schwerin von Schwanenfeld zu finden
sind, der von Freisler als „schäbiger Lump“ diffamiert
wurde, was doch einzig auf Freisler selbst zutraf, so verspätet
trafen er und seine Mitkämpfer auf der Bühne ein. Natürlich
kotzt es uns an, wenn Hitlers „alter Bolschewik“ Freisler
den verdienten Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben als „schäbigen
alten Mann“ bezeichnet, weil der in der Haft dürr gewordene
Mann seines Gürtels beraubt fürchten musste, die Hose zu verlieren
und sie daher festzuhalten suchte. Doch wer hatte die Wehrmacht siegreich
nach Frankreich geführt und selbst noch bei Beginn des Verfahrens
vor dem Volksgerichtshof mit steifem Arm gegrüßt, bis Freisler
dieses untersagte? Das war von Witzleben! Wenn es stimmt und von Witzleben
orakelte Freisler, dass das wütende Volk drei Monate später
Freislers verreckten Leib durch den Kot der Straßen schleifen
würde, dann beweist dieser Ausspruch vor allem eines: die Verschwörer
waren sich dessen bewusst, dass es bereits fünf vor Zwölfe
war und der Dampfer „Drittes Reich“ schon kieloben trieb.
Und siehe, sie gaben dem Imperium des Bösen sogar nur noch ein
Vierteljahr, statt des in Wahrheit verbleibenen Dreivierteljahres. Das
heißt, sie begriffen die Schlinge um ihren eigenen Hals, die sie
zum Handeln trieb, schon weit enger, als sie tatsächlich war. Wird
das Heldentum der Attentäter dadurch relativiert? Nun, Tucholsky
sagt, gegen die Toten hätte niemand Recht. Das soll auch so sein.
Vor dem Opfertod der Mitglieder der Weißen Rose aber, die im Gegensatz
zu den Verschwörern des 20. Juli „nur“ ihr Leben und
nicht noch zusätzlich ihre Güter und ihren Besitz zu verlieren
hatten; vor den Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen, die seit
der ersten braunen Stunde unter Einsatz ihres einzigen Lebens erbitterten
Widerstand leisteten, vor diesen Leuten muss der 20. Juli 1944 zurücktreten.
Er muss. Denn das Opfer der anderen war über jeden Zweifel erhaben.