Vierundvierzig Jahre
Auf Wembley folgte Bloemfontein
David Katz
Fußball ist des Landboten Angelegenheit in aller Regel nicht.
Doch diesem Spiel können wir uns einfach nicht verweigern. Deutschland
gegen England in einer Weltmeisterschaftsbegegnung – das ist die
Spielerkombination schlechthin. Zwei große Fußballnationen,
darunter das Mutterland des Fußballs, prallen jedesmal aufeinander
wie zwei Titanen. Da stecken Emotionen drin, Herzrasen, Angst und Jubel.
Seit dem 27. Juno 2010 gesellt sich nun auch ein gerüttelt Maß
an Theologie hinzu: Wurde doch das unverwüstliche Dogma, das Gottes
Mühlen langsam aber gerecht mahlten, nachhaltig belegt. Vierundvierzig
Jahre nach Wembley kam die Retourkutsche. Der Ball von Wembley war nicht
drin – die Engländer bekamen ihn. Der Ball von Bloemfontein
war einhundertprozentig im Kasten, jeder sah es außer die Schiedsrichter,
die Three-Lions bekamen ihn nicht und durften anderen Tages für
die Heimreise packen. So spricht der Herr: Die Sünden der Väter
werde ICH heimsuchen an den Söhnen und Enkeln und Urenkeln... In
einem Punkte jedoch hat der englische Trainer sicherlich recht: Ob die
Sache nach einem gerechterweise gegebenen Tor immer noch mit vier Toren
für Deutschland siegreich ausgegangen wäre, darf wohl mit
einigem Recht bezweifelt werden. Der psychologische Effekt einer solchen
katastrophalen Fehlentscheidung eines Schiedsrichters ist schlichtweg
desaströs. Das kann schon mal die Luft aus der getroffenen Mannschaft
heraus lassen. Und sicher hätte es unseren Beifall gefunden, wenn
die deutsche Elf Fußballgeschichte geschrieben hätte, indem
sie nach Beginn der zweiten Halbzeit ein demonstratives Eigentor geschossen
oder denen Engländern eine Ehrengasse zum Tor geöffnet und
damit den Engländern den verdienten Zähler gutgeschrieben
hätte. Wäre es dann immer noch mit vier zu zwei ausgegangen,
dann hätten das deutsche Team und die deutsche Nation wenigstens
mit Recht auf den Sieg stolz sein dürfen. So aber hat die ganze
Geschichte natürlich einen sehr faden Beigeschmack. Der Herr ließ
des Weiteren verkünden, die Rache wäre sein. Nun gut. Ein
Grund zur Häme ergibt sich daraus sicherlich nicht. Wir hätten
sicherlich die Möglichkeit gehabt dem Mutterland der Fairness zu
beweisen, dass Werte wie Ritterlichkeit und Anstand auch in Deutschland
bis auf den heutigen Tag überlebt haben. Wir hätten die historische
Chance gehabt, England mit Deutschland nachhaltig zu versöhnen
– über die Gräber der Väter hinweg. Diese Chance
wurde vertan um eines kurzfristigen Erfolges willen, der schon nichts
mehr wert ist, sollten die Argentinier am nächsten Samstag den
Deutschen das Billett zum Heimflug lösen. Selbst wenn die Deutschen
am Ende den Pokal in der Hand halten – die Freundschaft und die
Achtung einer verwandten Nation, die uns anfangs des letzten Jahrhunderts
abhanden kamen, wäre wertvoller gewesen, hätte vielen Menschen
viel mehr gebracht als eine Weltmeisterschaft, die in vier Jahren sowieso
wieder neu ausgespielt wird und dann nur noch für eine Listenstatistik
taugt. Im Übrigen hätte ein solches „gentlemanlikes“
Verhalten dem deutschen Namen in der Welt wieder Ehre und Anerkennung
eingetragen, einen Ruf, der sich auch in wirtschaftlicher Hinsicht mehr
als gelohnt hätte. Bis auf die paar Flachköpfe, die Deutschland
ein Land von Idioten gescholten hätten, wäre es dem Rest der
Menschheit klar gewesen – die Teutonen sind so stark, dass sie
eines unverdienten Vorteils nicht bedürfen um zu siegen. Und sie
sind stark genug, dass man sich darauf verlassen kann von Ihnen nicht
übers Ohr gehauen zu werden. Wenn etwas Deutschland wirklich aus
der Krise geholfen hätte, dann sicherlich das. Für eine solche
Mannschaft hätte der Landbote denn auch das Große Bundesverdienstkreuz
vorgeschlagen – denn die hätten für das Land unter den
Eichen etwas wahrhaft Großes geleistet. Das Wunder von Bloemfontein
hätte es geheißen. Nun ja, die elf jungen Burschen in den
schwarz-weißen Trikots, die an jenem Abend in Südafrika so
brillant spielten, waren eben keine Ausnahmepersönlichkeiten, sondern
„nur“ elf junge Burschen, die einen exzellenten und –
von diesem Tor einmal abgesehen, dessen Nichtanerkennung ja nun nicht
ihre Schuld war – einen sehr fairen Fußball spielten. Sie
waren den Engländern im strategischen Aufbau des Spiels, in der
raschen Umsetzung durch fantastische Kombinationen und in der unermüdlichen,
flinken und präzisen Arbeit haushoch überlegen. Da beißt
die Maus keinen Faden ab. Mit oder ohne das Tor von Bloemfontein –
der Sieg war letzten Endes verdient. Und auch den Söhnen der Insel
muß man für ihre saubere Spielführung bis zuletzt, für
ihre ungebrochenen Tapferkeit tiefsten Respekt zollen. Es war ein Spiel,
das sich auch der Landbote von der ersten bis zur letzten Minute ansah.
Und das will was heißen! Übrigens, der Leser „Bricker“
schrieb heute um 7:42 Uhr in der Sun: Now we are equal with Wembley
1966. Nobody should discuss about this two goals/no-goals anymore. 44
years we've waited for the equalizer. Now we have it. Und um 8:00 Uhr
kommentierte „chri2sa“: That was poetic justice for 1966.
Thank you god of football! Danke, England! Danke für solche Fairness.
Das nennen wir Größe und Sportsgeist.