Gewitter des Schwachsinns
Havelfest zum Leidwesen der vernunftbegabten
Kreatur eröffnet
J.-F. S. Lemarcou
Man möchte meinen, der Zweite Weltkrieg mit seinem Bombenterror,
den peitschenden Maschinenpistolenschüssen und den jaulenden Stalinorgeln
hätte der Chur-und Hauptstadt genug Krach für die nächsten
drei Ewigkeiten beschert. Doch weit gefehlt. Die Erzählungen der
Alten, sie seien von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl
durchströmt worden, als am 1. Mai 1945 die infernalischen Kriegsgeräusche
in Brandenburg an der Havel verstummten, die Tod und Verderben brachten,
sind doch wohl ins Reich der Legende zu verweisen! Wie anders lässt
sich erklären, dass in der Nacht vom 19. zum 20. Juno 2010 erneut
die Hölle losbrach über den Ufern der Havel? Das Gedächtnis
der Menschen sei kurz, heißt es. Möglich. Viel wahrscheinlicher
aber dünkt uns, die Leute wären von einer Blödheit, die
in der gesamten belebten Natur einzigartig ist. Jedes angeblich unvernünftige
Vieh, soweit es mit Ohren ausgestattet ist, meidet den Lärm. Diesem
Terror ausgesetzt verkroch sich der alte Redaktionskater Moritz in den
dunkelsten Winkel unter dem Chaiselongue. Tausende gequälter Kreaturen,
die der Nackte Affe so „liebevoll“ Haustiere nennt, und
doch nur als hörige Kuschelkameraden missbraucht, haben es ihm
gleich getan. Denn das Feuerwerk, mit dem das Havelfest eingeläutet
wurde, erinnerte an die Explosion des Delfter Pulverturms am 12. Oktober
1654 – nur dass es in Delft mit einem Hammerschlag Gottes abgetan
war und sich das Brandenburger Gedröhne, das Mauern wackeln ließ,
eine halbe Stunde lang hin zog. Zwischen den Reihenhäusern des
Stadtbezirkes Nord rasten die losgelassenen Schalltsunamis hin und her,
sich gleichsam aufschaukelnd und den Lärmterror zur Potenz verstärkend.
Wieviele alte und schwerkranke Menschen zu Hause und in den Betten des
Marienkrankenhauses rsp. des Städtischen Klinikums wird dieser
furor stultitiae üble Qualen verursacht haben! Aber was schert
es die am Körper Gesunden und lediglich am Geiste Erkrankten? Einst
hatten die Chinesen das Feuerwerk erfunden um böse Geister zu vertreiben.
Ließ sich der böseste aller Geister, der Ungeist der menschlichen
Dummheit vertreiben? Mitnichten. Er obwaltete dem Dantesken Spektakel.
Was eigentlich feiert man beim Havelfest? Und warum muss jede Feier
des Proletentums – denn an dieses ist ja wohl das besagte Ereignis
hauptsächlich adressiert – von dröhnendem Gewitter begleitet
sein? Was freut den Bodensatz der Menschheit an dem Gehör vernichtenden
Lärm? Wir wissen darauf keine Antwort. Möge sich die soziologische
Fakultät einer Universität dieser Frage annehmen. Die Forschungsfelder
werden frei Haus geliefert, denn das Problem ist global und ubiquitär
verbreitet. In Südafrika denkt man darüber nach, den Negern
den Gebrauch ihrer Tuten zu verbieten, die sie in den Stadien anlässlich
der Fußballweltmeisterschaft so reichlich ertönen lassen,
weil die Spieler ihre Trainer, sich selbst und die Fernsehzuschauer
den Kommentator nicht mehr verstehen. Wie auch immer das Ergebnis einer
Studie aussehen mag, uns dünkt ein Zusammenhang besonders augenfällig:
Je hohler und sinnentleerter die Existenz von Nackten Affen, die sich
zu einem Rudel zusammenfinden, desto lauter wird es um sie herum. Nun
wissen wir, dass besonders verhaltensgestörte Kinder und darunter
speziell solche, die sich ihrer eigenen Persönlichkeit hochgradig
unsicher sind, den meisten Lärm verursachen, offensichtlich aus
dem Grunde, dass die Welt von ihnen Notiz nehme, da sie ja sonst nichts
haben, womit sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken könnten. Gesetzt
den Fall, das Lumpenproletariat wäre mehrheitlich auf einer infantilen
Entwicklungsstufe stehen geblieben – und es spricht weiß
Gott sehr viel dafür – dann würde dieses Verhalten mit
unserem Postulat hervorragend korrespondieren: Kollektive Minderwertigkeitskomplexe
brechen sich Bahn, wenn sich China-Böller und Kanonenschläge
von der Wucht einer Faulen Grete oder eines Krupp-Mörsers in den
nächtlichen Himmel entladen. Wir behaupten nicht, wir hätten
damit bereits den Nagel auf den Kopf getroffen. Näheres Hinsehen
und Prüfen dieses Ansatzes erscheint uns jedoch lohnenswert.
Ein uns sehr befreundeter Chefredakteur a. D., der seinen Ruhesitz in
der Puszta genommen hat, bat uns jüngst, unter anderem vom Havelfeste
zu berichten. Nun, uns direkt in den Abgrund dieses Malstroms menschlichen
Ungeistes zu begeben, fehlt uns die sicherheitstechnische Ausrüstung.
Einen Skaphander anzuschaffen liegt außerhalb unserer finanziellen
Reichweite. Daher müssen wir uns auf diesen Bericht beschränken,
der pars pro toto dafür stehen mag, was von dem Gesamtspektakel
zu erwarten ist:: Die Dummheit schlägt Purzelbäume, ergo,
in der Havelstadt nichts neues!