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Arzt und Politiker
Hans-Peter Jung erinnert sich an die Wendezeit

Michael L. Hübner
Es war ein Glücksfall, dass Hans-Peter Jung die berühmte Dresdner Kreuzschule besuchen durfte. Geboren wurde er 1936 in Hainichen, 40km von der sächsischen Landeshauptstadt entfernt. Die Großeltern besaßen in Dresden ein Haus und so konnte man das hinbiegen. „Im Kreuzchor gesungen habe ich allerdings nicht. Ich war in der Nichtsänger-Klasse. Aber die Ausbildung war hervorragend...“, erläutert der spätere Chefarzt der Brandenburger HNO-Klinik. Jung immatrikulierte sich an der medizinischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. Ein chirurgisches Fach sollte es sein, aber eines, das „überschaubar“ war. Damals wenigstens noch. Die Ausbildung vollendete Jung an der Medizinischen Akademie in seinem geliebten Dresden, der nonchalanten Elbmetropole, die im Kriege so furchtbar gelitten und doch nichts von ihrem feinsinnigen und freizügigen Geist eingebüßt hatte. Oberschüler und Studenten sammelten und gaben das wenige, was sie hatten, damit das Gerüst an der Semperoper nicht abgebaut werden musste und die Arbeiten an ihrer Sicherung weitergehen konnten. Ob es die Jazzkeller Dresdens waren oder die Ausbildung an der Kreuzschule – so richtig wurde Jung mit dem SED-Staat nicht warm. Die Aufforderung, der staatstragenden Partei beizutreten, verweigerte sich der exzellente Mediziner. Zu erschütternd wirkten auch die kommunistischen Schauprozesse auf Jung. Das Verhalten Hilde Benjamins weckte unangenehme Erinnerungen. Eine Parteimitgliedschaft kam nicht in Frage: „Dann ist ihrer Karriere hiermit ein Ziel gesetzt,“ antwortete der Werber freundlich und jovial auf Jungs Ablehnung. Jung akzeptierte. Sein fachliches Können sollte maßgeblich für sein Fortkommen sein, nicht die vorgetragene Gesinnung. 1973 wurde er auf Brandenburg an der Havel aufmerksam, wo man einen Nachfolger für den aus dem Dienst geschiedenen Chefarzt Vetter suchte. „Ich wollte eigentlich nur meinen Marktwert testen“, berichtet der Mediziner. Dieser schien hoch im Kurs zu stehen. Die 40 Betten starke HNO in Kirchmöser hatte wieder einen Chef. Der krempelte die Ärmel hoch und kümmerte sich um die Entwicklung der Mikrochirurgie in seiner Klinik. Die Arbeit aber war das Eine. Auf der anderen Seite war ein Staat, der dem Studenten Jung das Leistungsstipendium wegen mangelnder gesellschaftlicher Tätigkeit aberkannte, der eine ungesunde Gleichmacherei betrieb und dem Faulen dasselbe zahlte wie dem Fleißigen, beiden aber in aller Regel keine Reisefreiheit gewährte. Dass die Gerontokraten aus dem Politbüro dem Volk eine hervorragende Bildung und ein kostenfreies Gesundheitswesen für alle boten, unter anderem das stand unbestritten auf der Habenseite – dass aber so plumper Wahlbetrug begangen und in demagogischer Weise verwertet wurde, das war ein Menetekel. Die zunehmenden Parolen lösten nicht die zunehmenden Probleme. Etwas liberaler wurde der Staat ja Jung gegenüber: Trotz des Bruders in Westberlin ließ man den Chefarzt zu einer Weiterbildung im Juni 1989 nach Österreich fahren. Doch das Tauwetter kam zu spät. Als Honecker abgesetzt wurde, weilte Jung übrigens bei einem OP-Kurs in Greifswald. Ein teilnehmender Kollege aus dem Westen fragte: „Ja, warum feiert ihr denn nicht?“ Feiern? Dazu war die herrschende Unsicherheit viel zu groß. Was würde geschehen? Wie würde es weitergehen? Doch die Aufbruchstimmung stellte auch Jung vor die Entscheidung in die Politik zu gehen oder dem Krankenhausbetrieb treu zu bleiben. Die Pflicht den Patienten und den Kollegen gegenüber siegte. Erst nach der Pensionierung wandte sich der langjährige Chef der Brandenburger HNO der Kommunalpolitik zu, die er als SPD-Mann vertrat. Besonders Willy Brandt hatte ihn maßgeblich beeinflusst – der Mann, der trotz aller scheinbaren Aussichtslosigkeit nie aufgehört hatte an der Deutschen Einheit festzuhalten, während Konrad Adenauer die wie auch immer gemeinte Stalin-Offerte nicht einmal prüfte, sondern „ein halbes Deutschland ganz einem ganzen Deutschland halb“ vorzog und damit den Osten aufgab. Die Arbeit für die Stadtverordnetenversammlung brachte Jung an deren Spitze. Der gebürtige Sachse, der den Ausgleich sucht und die Sachpolitik in den Vordergrund stellt, ist somit das protokollarische Oberhaupt der alten Dreistadt Brandenburg an der Havel. Der SED-Genosse von einst, der Jung seinerzeit für die Arbeiter- und Bauernpartei werben wollte, hatte sich eben auf der ganzen Linie geirrt, als er dem einst beliebten Chefarzt und jetzigen Politiker das Ende der Karriere orakelte.

15. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
25.11.2009