Brandenburgs „Goldene
Zeit“
Dr. Klaus Heß referierte vor dfb zu
Brandenburger Zeitgeschichte
Kotofeij K. Kotofeij
Brandenburg an der Havel schrieb mitteldeutsche Industriegeschichte.
Davon berichtete am Dienstag, dem 17.11.2009 Dr. Klaus Heß vor
12 Zuhörern im Rahmen einer Vortragsveranstaltung des Demokratischen
Frauenbundes im Bürgerhaus Hohenstücken.
Als einstige Tuchmachermetropole musste auch Brandenburg an der Havel
schmerzlich erfahren, was Strukturwandel bedeuten kann, wenn zum Beispiel
der Hauptimporteur U.S.A. Schutzzölle erhebt und Konkurrenten wie
England oder die Lausitz das Geschäft versalzen. Auch in der Havelstadt
brachen ganze Industriezweige über Nacht weg, die in die Boomtown
gezogenen Arbeiter genossen in der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
keineswegs die Segnungen des Sozialstaates. Wer arbeitslos war, hatte
von heute auf morgen kein Geld mehr – gar keines. Doch Brandenburger
Unternehmergeist kämpfte. In dieser Zeit, die auch die Epoche der
Reichseinigung nach dem gewonnenen deutsch-französischen Kriege
war, gelang der Chur- und Hauptstadt die Transformation zum metallverarbeitenden
Industriezentrum. Dr. Heß, der sich einst als Brandenburger Chefarchivar
sehr um die Geschichte der Brandenburger Arbeiterschaft verdient gemacht
hatte, vergaß nicht zu erwähnen, unter welchen Bedingungen
und auf wessen Knochen die Stadt zu einer erneuten Wirtschaftsblüte
gelangte. Eine Sechs-Tage-75-Stunden-Woche ließ die billigen Lohnsklaven
von damals schon in jungen Jahren alt werden. Der Werktag begann um
5:30 Uhr und endete nach einer Stunde Mittagspause um 20:00 Uhr. Doch
Arbeit haben bedeutete noch keineswegs eine gesicherte Existenz in Wohlstand,
wovon die auch um diese Zeit hochgezogenen Mietskasernen, die teilweise
noch bis in unsere Epoche überlebt haben, lebhaft Zeugnis geben.
Wer es geschafft hatte, und eine Firma von Weltruf aufgebaut hatte,
wie die Reichstein-Brüder oder Ernst-Paul Lehmann, der residierte
schon großzügiger und vornehmer – meist in unmittelbarer
Nähe der Produktionsstätten. Der Stolz auf das Erreichte war
sicherlich berechtigt: zählte das Brennabor-Fahrrad doch zu den
weltbesten Fortbewegungsmitteln dieser Art. Gleichzeitig wurde bei Brennabor
der Kinderwagen mit Klappverdeck und der Kindersportwagen erfunden.
Dieser Erfolg zog weitere Existenzgründer an: Die Fahrrad-produzierenden
Werke Corona, Condor, Excelsior und Alexander wuchsen empor, expandierten
zumeist und übersiedelten aus den Innenstadtbereichen in die meist
billigen Baugrundstücke am Stadtrand. Brandenburger Qualität
wurde sprichwörtlich und -letztendlich paradoxer Weise einer der
Gründe für den Untergang der Produzenten, die den Paradigmenwechsel
hin zu billiger Massenware nicht rechtzeitig erfassen oder verstehen
konnten.
Ernst-Paul Lehmann beglückte die betuchten Kinder in aller Welt
mit mechanischem Blechspielzeug, Oskar Wiedenholz entdeckte das Lineol-Spielzeug
mit seinen lebensechten Darstellungsmöglichkeiten von Tieren aus
aller Welt. Die Gebrüder Wiemann kauften das Gelände des ehemaligen
Freyhauses der Neustadt und errichteten eine prosperierende Maschinenfabrik,
Eisengießerei und Schiffswerft am südlichen Havelufer. Emil
Kummerlé errichtete die Kammgarnspinnerei, welche durch die aktuelle
Neuansiedlungsdiskussion momentan wieder in den öffentlichen Fokus
geraten ist. Gottfried Krüger, edler Spender der Bauchschmerzenbrücke,
wandelte sich vom Tuchfabrikanten schnell zum Industriekapitän
in der Metallbranche und stampfte die Elisabethhütte aus dem Boden.
Später kam nach Brandenburg auch die Flugzeugproduktion, in Briest
sowohl, als auch Arado in Neuendorf. 1938 entschied sich sogar Opel,
die modernste LKW-Produktionsstrecke Europas von Rüsselsheim quasi
über Nacht nach Brandenburg an der Havel zu verlegen. Für
das Werk am Silokanal südwestlich der Gördenbrücke ließ
Oberbürgermeister Dr. Erich Kreutz sogar die Hohenzollernstraße,
im Verlauf der heutigen Karl-Marx-Straße, mit allen Medien ca.
200 m nach Osten verlegen, was die Grundlage der heutigen Trassenführung
der August-Bebel-Straße bildet. Dieser Standort blieb Opel so
gut im Gedächtnis haften, dass nach der Wende eine Neuansiedlung
von Opel in der Chur- und Hauptstadt in Erwägung gezogen wurde.
Das Rennen allerdings machte dann Eisenach. „Aus heutiger Sicht
muss man sagen: Zum Glück! Sonst hätten wir jetzt die Probleme
des Opelsterbens im Zuge der Weltwirtschaftskrise am Hals“, bemerkte
Dr. Heß lakonisch. Reichsmarschall Göring glaubte mit diesem
Schachzug übrigens, den größten LKW-Zulieferer der Wehrmacht
vor den Bombardements der anglo-amerikanischen Luftkriegsflotte sicher
platziert zu haben – ein Irrtum, wie sich herausstellte. Während
des Bombenkriegs erwies sich dann auch die Kehrseite der Medaille als
bedeutendes Industriezentrum. Der Domstadt blieben zwar totale Zertrümmerungen
wie in Dresden, Hamburg, Berlin, Schweinfurt, Würzburg und anderen
deutschen Großstädten erspart. Als Zielgebiet für gezielte
Anflüge von Bomberstaffeln hatte Brandenburg an der Havel bei den
Alliierten jedoch schon eine feste Hausnummer. Nach dem Krieg knüpfte
man trotz Zerstörung und großflächiger Demontage als
Reparationsleistung wieder an die Tradition der Schwer- und metallverarbeitenden
Industrie an. Darüber hinaus wurden auch die innerstädtischen
Produzenten in volkseigener Regie weitergeführt. Vor allem lag
Brandenburgs ungeheure Attraktivität für Investoren immer
in seiner Lage begründet: Nicht zu weit weg von der Hauptstadt,
unmittelbare Autobahnnähe, zwei Fernstraßen, europäische
Wasserstraße, Ferneisenbahn- und Lokalstreckenverbindungen, ein
Flugplatz das alles war seit jeher und mehr interessante Einblicke einer
Zeit des Aufbruchs und der Vollbeschäftigung, sowie topographische
Hintergründe der Ansiedlung bestimmter Industriezweige konnte Dr.
Heß in seinem beinahe zweistündigen Vortrag vermitteln. Für
die Havelstadt ein eminent wichtiges Thema: Beleuchtet es doch den Pioniergeist,
der einst in ihren Mauern herrschte und den Namen der Stadt in die Welt
hinaus trug. In dieser Epoche begnügten sich die Brandenburger
nicht damit, ihren Rang als Entwicklungskern einer Region zu verteidigen.
Sie drängten auf vielen Gebieten an die Weltspitze und erreichten
sie auch. Mit einer solch namhaften und geballten Wirtschaftsmacht im
Hintergrund konnten auch die Brandenburger Oberbürgermeister auf
eine Hausmacht zurückgreifen, welche ihrer Stimme im Canon der
deutschen Verwaltungschefs machtvolles Gewicht verlieh. Es ist das Verdienst
der jetzigen Stadtregierung, an diese Traditionslinie wieder anzuknüpfen
und die teils Investoren verschreckende Politik der Vergangenheit sukzessive
zu ändern. Insofern wäre sowohl dem Ausblick in die Brandenburger
Industriegeschichte durch Dr. Heß als auch der Stadt selbst ein
weitaus größeres Publikum zu wünschen gewesen.