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Paten sollen es retten

J.-F. S. Lemarcou
Ein Pate ist doch etwas Feines: Für die Kinder früherer Generationen war der Pate der Überlebensgarant, falls den Eltern etwas zustieß. Eine sehr sinnige Erfindung. Nun erlebt diese Institution in der Mark Brandenburg eine Renaissance. Ziel ist es wiederum, Kindern in unangenehmen Situationen, die durch schwache oder hilfsbedüftige Familien hervorgerufen werden, zur Seite zu stehen. Ein Vergleich zwischen den christlichen und den gegenwärtigen Paten drängt sich auf und eines sticht dabei sofort ins Auge: Während die Paten alten Typus in einer Gesellschaft der Großfamilien wirkten, denen Sippenverantwortung etwas galt, so sehen wir uns heute mit einer entsozialisierten und individualiserten Form des Zusammen-, oder genauer gesagt: des Auseinanderlebens konfrontiert. Die wachsende Anonymität, lange Zeit zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit als essentiell und entsprechend wohltuend empfunden, zeigt die Schattenseiten des Verlustes an sozialer Kontrolle. Gepaart mit immer reichhaltigeren Angeboten zur Verblödung, die von der gigantischen doofen Fraktion des Volkes dankbar angenommen wird, schafft diese Anonymität der inneren und äußeren Verwahrlosung vieler Menschen den entsprechenden Spielraum. Die asozialen Elemente, deren einziger Daseinsinhalt seit Jahrhunderten im Fressen, Saufen und dem ungezügelten Triebleben besteht, seit einigen Jahren nun um das Fernsehen und das Computerspiel, sowie dem endlosen Gefummel mit Mobiltelephonen verarmt wurde, frönen zwar einer einer fidelen protestantischen Fruchtbarkeit, sind aber keineswegs in der Lage, sich adäquat um ihren Nachwuchs zu kümmern. Die tragische Folge sind verlauste und verhungerte Kinder, unterernährt an Brot, Liebe und Bildung, und mitunter verscharrt in Blumenkübeln und Hinterhöfen. BILD schreit „Skandal!“ und das Volk übertrifft sich in Aufschreien der Entrüstung. Politiker geraten unter Druck und treiben Staatsbedienstete und NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) zu oft blindem Aktionismus. Man will verhindern, verhüten, vorbeugen, entgegenwirken...
Und da bleibt es dann nicht aus, dass eine altbewährte Einrichtung wieder ans Licht gezottelt wird: die des Paten nämlich. Das sind nun Leute, die teils selbst schon in Rente oder anderweitig nicht ausgelastet sind. Die nehmen sich solcher Familien an – rein freiwillig, versteht sich, und überhaupt, he, was sagen Sie dahinten in der letzten Reihe? Soziale Kontrolle? Pscht! Ja, spinnen Sie denn? Wie können Sie denn nur an so was denken? Liegt auf der Hand? Ach hör'n Se doch auf! Nein, wir hören nicht auf. Das Gegenteil von Gut ist bekanntlicherweise nicht Böse, sondern gut gemeint! Noch mag sich das alles sehr harmlos ausnehmen. Viele Paten werden ehrlichen Herzens dabei sein. Aber sie kommen in die Wohnung der Asozialen, sie sehen die Zustände, sie hören das Gebläke entnervter Mütter und derer gestresster hyperaktiver Gören, während der angesoffene Alte Egoshooter zockt. Was sollen sie denn jetzt machen? Zwei Jahrzehnte verkorkste Erziehung der Eltern aufholen und die der Kinder gleich in die richtigen Bahnen lenken? Bei der therapieresistenten und unbeschulbaren Klientel? Na, wo wohnt denn der gute Onkel Weihnachtsmann? Oder sollen, ja müssen sie dem Jugendamt Kenntnis von als unhaltbar empfundenen Zuständen geben? Die Teilnahme am Familienpatenprojekt sei freiwillig, heißt es. Ja, ja – aber wie lange noch? Wird dieser Prozess nicht irgendwann einmal eine gewisse Eigendynamik gewinnen, wie er solchen Verfahren nun mal immanent ist? Wird es nicht irgendwann einmal heißen: „Natürlich können wir Sie zu einer Teilnahme nicht zwingen, aber wenn Sie ablehnen, müssen wir schon vermuten, dass Sie irgendetwas zu verbergen haben, finden Sie nicht auch?“ Aus dem Dunkel der Erinnerung steigt bei uns das Bild der DDR-Wahlkabinen empor: „Natürlich können Sie die benutzen, dafür stehen sie ja da. Na denn... Sie werden schon sehen, was Sie davon haben!“
Es ist ein sehr schwieriges Thema. Einerseits ist die Gesellschaft zu schwach sich einzugestehen, dass ein hoher Prozentsatz einer sozialen Kontrolle geradezu bedürftig ist, weil das Leben wehrloser Dritter, der Kinder nämlich, durch das asoziale Verhalten ihrer Eltern direkt berührt ist, andererseits pocht man auf dem unverletzlichen Recht zur Selbstbestimmung, und will sich von Willkür und Autoritätsanspruch totalitärer Systeme abgrenzen. Damit aber malt man ein Elysium an die Wand, das so nicht existiert und nie existieren kann. Man bräuchte einen Führerschein für Kindeserziehung, wie man ihn seit langem schon potentiellen Adoptiveltern abverlangt. Aber wo setzt man die Richtlinien an, wer setzt sie überhaupt an und wer maßt sich an, das Ganze umzusetzen? Derweil nimmt die gesellschaftlich drückende Problematik immer gewalttätigere Züge an. Gab es früher noch ein schmerzhaftes Aufstöhnen quer durchs ganze Volk, wenn eine Mutter – o heilige Hüterin des Lebens – wieder einmal ihr Kind in einer Überforderungssituation auf rigide Art und Weise entsorgt hat., so lockt mittlerweile eine solche Meldung keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Und nun sollen die Familienpaten es richten? Na dann – drauf und dran, Spieß voran! Wir vermissen noch das obligate: Honi soit qui mal y pense! Denn, irgendwie werden wir den Verdacht nicht los, der Aktion hafte auch eine gewisse Alibi-Funktion: Wenn mal wieder ein Säuglingsleichnam aus einer märkischen Mülltonne gezogen wird, dann können sich ja die Verantwortlichen aus Politik und Gesellschaft hinstellen, die Hände in Unschuld waschen und sprechen: „Aber seht doch mal, was wir alles gemacht haben...!“
Nein, das gilt nicht. Kein Wort gegen das ehrenamtliche Engagement der Paten an der Basis, den Straßenläufern, die sich heißen Herzens um die Verlorenen zu kümmern gewillt sind! Sie werden von all dem nichts ahnen. Was wir fordern, ist, dass sich die Entscheidungsträger unter den Volksvertretern genauso heißen Herzens um eine Neuordnung der gesellschaftlichen Moral oder auf eine Rückbesinnung hin zu gestandenen, aber leider in Vergessenheit geratenen Werten besinnen – die vor der unangenehmen Erkenntnis nicht halt machen, dass sich jeder Mensch durch eigene Lebensführung in seinen Bürgerrechten einschränken kann, welch Defizit dann durch eine gesellschaftliche Intervention ausgeglichen wird. Wird dies nicht schon seit langem bei psychisch Kranken mit einem hohen Eigen- und Fremdgefährdungspotential über den Paragraphen 27 Psych. KG modellhaft geregelt? Aber sicher – die Zwangssterilisationen, die demokratisch durchaus fortschrittliche Schweden in den Zwanziger und Dreißiger des Zwanzigsten Jahrhunderts bereits durchführten – sitzen den Leuten noch tief im Genick. Es ist eine sehr vertrackte Situation und jede angebotene Lösung wäre mit tausend Sicherungssystemen gegen Missbrauch zu sichern – denn, auch geistig und sozial schwächere Eltern können hervorragende Eltern sein.
Inwieweit der Versuch der Einführung von Familienpaten des Problems Herr zu werden vermag, muss der Beurteilung durch die Zukunft überlassen bleiben. Wir werden aber die Befürchtung nicht los, es handle sich um den berüchtigten Tropfen auf dem heißen Stein.

15. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
02.10.2009