Der Chirurg
Unfallchirurg Dr. Jürgen David erinnert
sich an die Zeit der Wende
Michael L. Hübner
700 km liegen zwischen Brandenburg an der Havel und Tilsit an der Memel.
Dort wurde 1934 Jürgen David als Sohn eines Internisten geboren.
1952 machte er in Neuruppin sein Abitur und studierte gleich im Anschluss
an der Humboldt-Universität Medizin. Nach den Grundausbildungsjahren
in Röbel und einer mehrmonatigen Schiffsarzttätigkeit bei
der Fang- und Verarbeitungsflotte des Fischkombinats Rostock-Marienehe,
kam Jürgen David 1960 nach Brandenburg an der Havel. Der den Facharzt
Chirurgie mit späterer Spezialisierung zur Unfallchirurgie anstrebende
Arzt traf hier sicher nicht die schlechtesten Arbeitsbedingungen an:
Als Versorgungskrankenhaus im Einzugsgebiet einer Transitstrecke von
Westdeutschland nach Berlin konnte seine Unfallchirurgie schon eine
überdurchschnittliche medizintechnische Ausrüstung vorhalten.
Dennoch - Implantate und Instrumente waren dem westdeutschem Standard
nicht vergleichbar. „Viele Behandlungen oder Operationen hätte
uns unser Können gestattet, das Material jedoch nicht“, resümiert
der heute 75jährige. Mit der DDR stand er nicht auf Kriegsfuß.
Dass die Ärzteschaft auch im Arbeiter- und Bauernstaat eine durchaus
privilegierte Schicht darstellte, war ihm schon bewusst. Mit der staatstragenden
Idee ging er größtenteils konform, ohne aber der SED beigetreten
zu sein. Die sukzessive Entartung der sozialistischen Idee wurde jedoch
auch ihm immer deutlicher. Einen Anwerbungsversuch des MfS als IM lehnte
David höflich aber entschieden ab. Konsequenzen hatte das keine.
Man ließ ihn in Ruhe. Das war umso erstaunlicher, als der Gründervater
des Brandenburger Ärztefaschings eine Institution ins Leben gerufen
hatte, aus deren Bütt unverhohlen scharfe und geschliffene Attacken
gegen Partei und Regierung geritten wurden. „Ob man das von staatlicher
Seite als Überdruckventil auffasste? Ich weiß es nicht.“
Das Menetekel der Wende, dass sich in der Massenflucht Zehntausender
DDR-Bürger über Ungarn und der Tschechoslowakei abzeichnete,
sah David mit Besorgnis. „Wenn die alle gehen, wer soll dann hier
noch etwas bewegen“, fragte er sich. Er ging nicht. Amüsiert
berichtet er, welch große Augen die Ungarn machten, als seine
Frau und er auf der Rückreise von Bulgarien keine Anstalten machte,
nach Österreich zu fahren. Flucht wäre auch nicht mehr nötig
gewesen, denn kurze Zeit später kollabierte die Mauer. Von diesem
epochalen Ereignis erfuhr er erst am Tage danach – bis in die
Nacht hinein stand er an jenem Abend an der Tischtennisplatte. Den um
seine Patienten besorgten David ärgerte es jedoch, dass einige
Kollegen am 10.11. 89 bei den Pass- und Meldestellen für einen
Stempel anstanden, der die Fahrt nach dem Westen ermöglichte, während
man im Krankenhaus nicht mehr wusste, wie ein ordentlicher Klinikbetrieb
aufrecht zu erhalten sei. Dann aber flutete der Westen über die
Elbe. Bananen und Vertreter ergossen sich in das, was von der DDR noch
übrig war. Sich auf die Gelbfrüchte zu stürzen, empfand
Jürgen David als würdelos, den plötzlichen Segen eines
medizintechnischen Materials von bisher kaum gekannter Qualität
und Auswahl jedoch begrüßte er als segensreich. Endlich konnten
Behandlungen geplant und durchgeführt werden, die bis dahin kaum
denkbar waren. Das war auch für den Unfallchirurgen eine spannende
und herausfordernde Zeit. Skurrilitäten der neuen Marktwirtschaft
aber verschonten seine Abteilung nicht. Ein Produktmanager, wie sich
die Vertreter zu nennen begannen, wechselte beispielsweise die Firma
und – was gestern noch das Nonplusultra auf dem Markt war, wurde
im nächsten Augenblick als Tinneff deklariert, was man doch wohl
schleunigst nach Russland schicken solle. Man habe da etwas viel besseres...
David selbst wurde D-Arzt und musste sich mit den neuen Gegebenheiten
der Berufsgenossenschaften befassen, über deren bürokratischen
Bearbeitungsaufwand er schon erstaunt war. Langsam erkannte er Vor-
wie auch Nachteil des Gesundheitsmarktes in der neuen Zeit. Es ging
um Geld, Geld und nochmals Geld. Die oftmals wiederholten Worte der
einstigen westdeutschen Unfall-Patienten von der Transitstrecke: „Bei
ihnen herrscht noch so eine zwischenmenschliche Wärme“, bekamen
vor diesem Hintergrund eine andere Bedeutung. Eine Bedeutung nämlich,
über die das Nachdenken auch noch 20 Jahre nach der Wende lohnt.