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Tambari
von Benno Pludra
K. K. Bajun
Der Kinderbuchverlag Berlin hatte
es herausgegeben, in der DDR damals, und deklarierte es für Kinder
von 12 Jahren an. Es gibt da Stimmen, die halten es für das beste
Kinderbuch der DDR. Nun, wir wollen da verhalten widersprechen. Daß
es zu den besten Prosa-Werken des deutschen Arbeiter- und Bauern Staates
zählt – unbestritten. Aber Kinderbuch? Selbst in der DDR, als
die Kinder mit 12 Jahren im Gegensatz zu heute schon verhältnismäßig
gut lesen konnten, war dieses Buch für sie, bis vielleicht auf wenige
Ausnahmen, ein paar Nummern zu groß.
Herr Pludra legt hier ganz große Literatur vor, exzellente, scharfsichtige,
liebevolle, kenntnisreiche Literatur. Hier begegnet uns eine Facette der
deutschen Sprachgestaltung, die über das gewöhnliche Maß
hinauswächst. Die moderne, verkaufsorientierte Literatur wendet sich
mit simplen Worten und Satzkonstruktionen an simple Leser. Reichtum bedeutet
nun mal: die Ersparnisse vieler in den Händen weniger. Und die Masse
der Vielen ist recht einfach gestrickt, das ist eine Binsenweisheit. Gestützt
wird sie dadurch, daß bis dato noch keine Neuauflage des 286 Seiten
starken Buches im Lande der beinahe unbeschränkten Freiheit erfolgte.
Mein Exemplar hat mir Herr Pludra am 8. Mai 1974 signiert. Ich weiß
es noch wie heute: Herr Pludra war in der Russisch-Oberschule an der Brandenburger
St. Gotthardtkirche avisiert. Ein jeder von uns stürmte im Vorfeld
dieses Besuches die Maxim-Gorki-Buchhandlung und ergatterte für MDN
6,50 sein Exemplar um es dann von Herrn Pludra in seiner schönen
gleichmäßigen Handschrift signieren zu lassen. Zu Hause angekommen
und schwer beeindruckt von dem Manne, der solche dicken Bücher schreiben
konnte, die nun vom Fichtelgebirge bis nach Kap Arkona von jedermann gelesen
wurden, las ich das Buch an. Die ersten Seiten gingen ja noch. Aber dann
wurde es unglaublich schwer. Schwer zu erfassen, schwer zu begreifen.
Nun gut, ich war ja erst zehn. Wart mal ab, in zwei Jahren sieht die Welt
schon anders aus… Sah sie nicht! Mit zwölf rannte ich ebenfalls
vergebens gegen das Buch an. So verschwand es denn für Jahrzehnte
in meiner Haus-Bibliothek. 30 Jahre später nahm ich es wieder in
die Hand. Ergründen wollte ich, warum es mir damals das Buch mit
den sieben Siegeln war. Die Antwort fand sich schneller als erwartet.
„Tambari“ spricht mit dem Leser – es fordert ihn. Es
wendet sich an einen Partner, der zum Lesen einen Sack voll Lebenserfahrungen
braucht, einen Hintergrund, einen Horizont. Warum? In geschliffenem Deutsch
seziert Herr Pludra die Dynamik des Miteinanders einer Dorfgemeinschaft
von der Waterkant der sechziger Jahre. Souverän schreibt er, der
Zensur lächelnd eine Nase drehend, als ob es die schwerst-bewachteste
Staatsgrenze der DDR zum kapitalistischen Ausland nie gegeben hätte.
Bei den Fischern sind die ideologischen Sprachregelungen vom nichtsozialistischen
Wirtschaftsgebiet noch nicht angekommen. Klar gibt es Genossen, klar bestimmt
die Kooperative oder „die Produktion“ den Alltag – aber
ansonsten… Das spielt sich ein ganz normales Leben ab.
Luden Dassow kehrt in sein Heimatdorf am Bodden zurück. Nicht aus
der Sowjetunion – nein aus der Südsee. Jahrelang hat er dort
gelebt. Als verschollen galt er den Verwandten. Haben seinen Besitz unter
sich aufgeteilt. Da steht er plötzlich vor der Tür. Jetzt haben
sie Angst, daß er das Seine zurückhaben will. Begegnen ihm
mit Feindseligkeit und Mißtrauen. Der Klüngel gegen den, der
zu lange weg war, der in der Fremde den Stallgeruch verloren hat.
Nur einer freundet sich mit ihm an, der zwölfjährige Jan Töller.
Fährt mit Luden hinaus aufs Meer zum Fischen mit dessen kleinem Kutter
Tambari. „Tambari“, das ist der Name eines Südseeatolls,
so ganz anders als die Namen der heimischen Kutter. Das dient nicht eben
dazu, die Vorurteile gegen Luden abzubauen. Doch Luden muß sich
nicht lange ärgern. Bald stirbt er und hinterläßt den
Fischern des Dorfes seinen Kutter. Und wer sich je vorstellen will, wie
eine Dorfgemeinschaft im Dreißigjährigen Kriege mit dem Eigentum
der von ihr geschnittenen und verfemten Hexe umging, der mag Benno Pludras
Buch lesen. Subtil und mit anatomischer Präzision beleuchtet er die
Seelen der Menschen, schaut ihnen auf’s Maul, schaut durch die Wände
ihrer Häuser, die Wände ihrer Herzen. Sie wollen das Schiff
des Alten nicht, wie sie ihn nicht wollten. Sie geben den Kutter den Kindern
als Spielzeug.
Doch das Ungeahnte geschieht. Die Kinder machen das Boot wieder hochseetüchtig.
Gleichzeitig raubt ein schwerer Sturm den Fischern eine große Reuse,
geliehen, mit MDN 8.000,-- stehen sie nun in der Kreide. Was tun? Jetzt
rückt der Kutter wieder in ihr Blickfeld, in das Blickfeld ihrer
Begehrlichkeit. Den Kutter in diesem Zustand verkaufen hieße das
Geld für die verlorene Reuse haben. Doch da ist noch das Versprechen,
welches den Kindern gegeben wurde. Man kann es brechen. Die Kinder sind
nicht geschäftsfähig, es hat kein rechtsverbindlicher Eigentumswechsel
stattgefunden. Wenn da nicht die Moral wäre, wenn da nicht die Moral
wäre. Und so entbrennt ein Kampf im Dorfe um den Kutter, um die Kinder.
Pragmatiker die meisten, nur der Dorf-Säufer kämpft tapfer für
die Kinder. Und was ist mit Töllers Vater? Was ist mit Heinrich Töller?
Er, der geachtete Mann und Fischer im Dorfe – der Initiator der
Riesenreuse, der Gescheiterte. Kämpft er auch siegreich und tapfer
für die Sache seines Sohnes? Ist er ein Held, wie wir es aus den
amerikanischen Dutzendschinken bis zum Überdruß gewohnt sind?
Nein, wir wollen das nicht vorwegnehmen. Das sollten Sie selber lesen.
Sicher, die Buchhandlung um die Ecke wird Ihnen das Werk nicht beschaffen
können. Aber antiquarisch ist es verfügbar. Und das sollte man
nutzen. Dieses Werk lohnt es, denn es ist ein authentisches, lebendiges
und warmherziges Porträt eines kleinen Boddendorfes der sechziger
Jahre des letzten Jahrhunderts. Es ist ein ganz großes Buch, Herr
Reich-Ranicki – nicht überkandidelt, nicht exorbitant, sondern
von Meisterhand geschrieben. Es ist ein großes Buch über einen
kleinen Kutter und ganz normale Menschen. Es ist ein Buch für besondere
Menschen mit Geist und Erfahrung und Liebe zu Land und Leuten.
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