Zickenkrieg auf höchstem Niveau
Verschollene Hainichen-Oper nach 300 Jahren
wieder aufgeführt
Ulrike Becker stellt das von ihr editierte
Werk vor.
Kotofeij
K. Bajun
Sage niemand, die ganz große Kunst mache um die Chur- und Hauptstadt
einen Bogen. Man muss von einem echten Kracher sprechen, einem Ritterschlag
für die havelstädtische Kultur. Nicht allein, dass die Lautten
Compagney Berlin, einer der renommiertesten und ausgewiesensten Barock-Klangkörper
Deutschlands, in der Fachhochschule zu Gast war. Im Gepäck hatten
die Musici eine Oper von Hainichen, die seit 300 Jahren niemand mehr
gehört hatte. 1710 wurde "Paris und Helena" in Naumburg
uraufgeführt und erst vor kurzer Zeit in Zelters umfangreichem
Archiv der Berliner Singakademie wieder entdeckt. Dieses Archiv war
zwischenzeitlich sogar als sowjetische Kriegsbeute jahrzehntelang in
den Tiefen des Ostens verschollen. Ulrike Becker, die im Orchester auch
das Violoncello strich, editierte die alten Noten, brachte eine neue
Druckfassung der Musik und des Librettos heraus und los ging's. Was
da in der ehemaligen Reithalle der Kürassiere zum Vortrag kam,
war atemberaubend. Sieben geschulte Stimmen von unvergleichlicher Klarheit,
drei Soprane, drei Tenöre und ein Bass räufelten die Geschichte
des antiken Helden Paris auf, wie sie selbst Homer unbekannt gewesen
sein dürfte. Da hatte also der Trojanerprinz vor dem Raub der Helena
noch eine Verlobte namens Enone in Reserve, in die allerdings ein heißblütiger
Euristenes (Ulrich Cordes, Tenor) aber so was von verknallt ist. Helena
selbst zählt auch noch ein paar Bewerber um ihre Gunst. Anlässlich
des im Sturm gekenterten Schiffs, mit dem Paris des Menelaos's Weib
in die Gefilde Ilions zu bringen trachtet, rennt man sich über
den Weg und beinahe über den Haufen. Gegen die Soap, die sich nun
entwickelt, sind „Dallas“, „Denver-Clan“ und
"Verbotene Liebe" nur schale Treppenwitze. Man liebt sich
stürmisch im Kreis und setzt sich gegenseitig die Schwerter an
die Kehle. Und weil das Auditorium Maximum der Fachhochschule eines
Bühnenbildes entbehrt, bringt sich ein grandioser Henning Kaiser
(Tenor) als Diener eines trojanischen Ritters mit Körpersprache
und Gestik dermaßen ins Geschehen, dass man schon von einem halbszenischen
Vortrag sprechen kann. Seine Nachbarin Melanie Hirsch (Sopran) steht
ihm in nichts nach und beide agieren, dass auch die Musiker mitlachen
müssen und wunderbare Brücken aus dem "Orchstergraben"
auf die „Bühne“ schlagen. Was für eine herzenswarme
Atmosphäre voll bezaubernder, harmonischer und beseligender Musik!
Es ist keine Anmaßung, wenn Susanne Ellen Kirchesch, Sopran, die
Helena und damit die erklärtermaßen schönste Frau der
Welt gibt. Auch ihre Rivalin Enone, gesungen und geträllert von
einer göttlichen Gesche Geier, ebenfalls Sopran, ist nicht nur
ein Hingucker und Hinhörer – was für eine Rasse und
Klasse beider Damen! Man beneidet den Trojaner-Helden Paris alias Tobias
Berndt, Bass, um die Gunst zweier solcher Prachtweiber. Donnerwetter!
Auch der um Helena hinter dem Rücken des Paris werbende Arminde
(Dávid Szigetvári, Tenor) macht den glorreichen Sieben
alle Ehre. Ganz großes Kino! Zickenkrieg auf höchstem Niveau.
Gänsehaut pur! Und das vor einem mehr als überschaubaren Publikum!
Was ist da schief gelaufen? Warum musste Wolfgang Katschner als Dirigent
vor einem beinahe leeren Parkett spielen? Die Planung war anscheinend
unglücklich geraten: Zeitgleich wurde in einer berstend vollen
Studiobühne der Brandenburger Theaterpreis an Christiane Ziehl
verliehen und die Narren des KCH hatten in einer proppevollen Leutkirche
ihr neues Prinzenpaar proklamiert. Das Große Haus wurde bespielt.
In allen Veranstaltungen fand sich die kulturaffine Klientel, die Hainichen
sehr wohl goutiert hätte. Edelste Kunst auf Spitzenniveau musste
zudem in die Diaspora ausweichen. So wurden nach dreihundert Jahren
ein kultureller Edelstein ausgepackt und kaum jemand hat's bemerkt.
Als sich dann im Laufe des Abends in der Brandenburger Kulturlandschaft
die Kunde von Hainichens Oper verbreitete, traf man auf viele betretene
Gesichter. Lebhaftes Bedauern, dass man sich nicht zweiteilen könne,
Ärger über die verpasste einmalige Gelegenheit, Zähneknirschen
allenthalben. Von mangelnder Koordination des brandenburgischen Kunstbetriebs
ging da die Rede. Eine bezaubernde und komische Barockoper deutscher
Sprache – davon gibt's nicht sehr viele – wurde von etwa
fünf Dutzend Brandenburgern genossen. Die konnten sich nach dem
Schlussakkord auch selbst applaudieren: Sie hatten mit dem Besuch dieser
Oper eine hervorragende Entscheidung getroffen.