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Ein Abend, zwei Dramen
Stendaler brachten Schiller nach Brandenburg

Kotofeij K. Bajun
Schüler aus Friesack seien es gewesen, sagte Klaus Büstrin, der Doyen der märkischen Kultur- und Kritikerzunft. Sie ließen sich am Abend vor dem Reformationstag von einem Stück aus der Feder Schillers und der Regie Netschajews gefangen nehmen, einem Stück, das ohne jeden Zweifel zum nationalen Kulturerbe Deutschlands gehört. Sechzehn großartige Mimen vom Theater der Altmark zu Stendal brachten die ganz große Bühne nach Brandenburg an der Havel, "Kabale und Liebe", und – was tat die Stadt? Sie lugte unter der Zipfelmütze hervor, ob nicht vielleicht der Köfer in Sicht sei oder Rennhack oder Ohnsorg oder Millowitsch. Ein bisschen seichte Schunkelei und ein paar flache Kalauer und der Große Saal wäre krachend voll gewesen. Die Beleuchterbrücken hätten bestuhlt werden müssen. So aber gähnte den tapferen altmärkischen Töchtern und Söhnen Melopmenes in Sichtweite des Brandenburger Schillerdenkmals ein beinahe leeres Haus entgegen, das die ganz hervorragende Leistung der Darsteller und des Spielleiters jedoch zum Ausgleich umso begeisterter würdigte. Was dort geboten wurde, legte Ehre ein für die Theaterkunst. Ein spartanisches Bühnenbild, in seinem Aufwand reduziert bis zur Schmerzgrenze, in seiner Aussage aber präzise und plastisch wie ein gutes Haiku, wurde bevölkert von einer unaufdringlich-authentischen Kostümierung. Nirgendwo und an keiner Stelle drängelten Bühnenbildner und Kostümier Mark Späh und Regisseur Alexander Netschajew dem Publikum etwaige eigene Extravaganzen auf, noch konfrontierten sie es mit den fraglichen Experimental-Absonderungen exaltierter Künstlerpersönlichkeiten. Ein von Grund auf blitzsauberes, solides Theater zum Wohlfühlen, thematisch geschlossen und handwerklich perfekt, bot Kunstgenuss pur. Eine Botschaft wurde transportiert – keine Zumutung. Das kam auch bei der so oft verkannten Jugend an, die sich zwar aus Respekt vor dem edlen Hause ruhig etwas mehr in Schale hätte schmeißen können, dafür aber das 3¼ Stunden währende Stück nicht nur mit großer Disziplin, sondern darüber hinaus mit reger Aufmerksamkeit und wachem Interesse verfolgte. Es wird die Damen und Herren Schauspieler freuen, dass ihr Stück, die Handlung, die Charaktere von den Kindern in der Pause mit nicht geringem Sachverstand diskutiert wurde. Dass die Wellen ins Publikum getragen wurden, das manifestierte sich beim Schlussapplaus, bei dem unterschiedslos auch die fiesen Protagonisten mit Lob und Anerkennung bedacht wurden.
Was werden nun die Friesacker Oberschüler mit nach Hause nehmen? Zum ersten wohl die Erinnerung an einen unvergesslichen Theaterabend in einem exquisiten Hause. Und zum anderen die Frage, wozu die Brandenburger eigentlich ein Theater brauchen, da man ja von den Havelstädtern kaum ein kulturaffines Dutzend sieht, wenn so große Kunst gegeben wird. Eng wird's, sollte man in Stendal dieselben Gedanken wälzen. Den Friesackern sei gesagt: Lasst mal den Kopf nicht hängen, Kinder! Die Brandenburger brauchen ihr Theater schon noch. Wohin sollen sie denn sonst gehen, wenn die Köfers dieser Welt wieder mal vorbeizuklamauken geruhen? Es ist zum Verzweifeln! Claus Stahnkes grandiose „Antigone“ war bereits das Menetekel, das schaurig an den Tag brachte, dass selbst einige Brandenburger Pädagogen den Namen Sophokles noch nie gehört hatten. Da waren die Lehrer, die ihre Schüler in "Kabale und Liebe" begleiteten, schon aus anderem Holz. Die hatten das Stück im kleinen Finger. Vielleicht hätte Friesack ja ein solches Theater wie das unsere verdient. Und wir tingeln dann mit unseren Stars der seichten Unterhaltung in den Stahlpalast...
Sei's drum! Dank an die Altmärker für einen hervorragenden Abend der hohen Schauspielkunst – Dank für die professionelle Größe, diese Kunst auch vor einem halb leeren Haus ohne den geringsten Abstrich abzuliefern. Für die Tragödie auf der Bühne danken wir mit gezogenem Hut – für diejenige vor der Bühne schämen wir uns in Grund und Boden!

 
B
11. Volumen

© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012

31.10.2012