Kopf hoch – Kopf ab!
Tom Wolf schreibt preußische Kriminal-Fabel
fort
Kotofeij K. Bajun
Wenn einer auf den Schwarzen Adler-Orden, zu verleihen für geniale
Beiträge zur preußischen Literatur, abonniert ist, dann ist
das bar jeden Zweifels der Homburger und Wahlpreuße Dr. Tom Wolf.
Mit dem neuesten Preußen-Krimi begibt sich Wolf zeitlich gesehen
ins frühe 19. Jahrhundert; räumlich verortet in die unteren
Bereiche der oberen Havel. "Das spanische Medaillon" heißt
das Werk und es bietet wieder einmal alles, was man seit dem allerersten
"Langustier" von diesem Oberliga- Autoren gewohnt ist. Man
möchte beinahe meinen, ein Historiker von Rang hätte es sich
zur Aufgabe gemacht, dem geschichtsverdrossenen Volke die Lust an dessen
Wurzeln wieder schmackhaft zu machen. Ranke, Gundling, Wolf...
Blöd nur, dass man denen, so in die Kirche gehen, nicht zu predigen
braucht. Und jene, welche draußen bleiben, erreicht man sowieso
nicht. So auch bei dem Krimi, in welchem die Urenkelin des großen
Langustier recherchiert, die Aeronautin Gerardine Marquise de Lalande.
Um den vor Wortwitz und süffisanten Anspielungen sprühenden,
hochintelligenten und sprachlich verspielten, nichtsdestotrotz virtuosen
Erzählungsfaden nicht zu verlieren, sollte des Lesers IQ jedoch
keinesfalls hinter dem seines Pausenbrotes zurückstehen und Werte
zumindest oberhalb des Gefrierpunktes aufweisen. Wolfs gewaltiger Wortschatz,
sein immenses Wissen auf universalen Ebenen, fordert im Leser eine ebenbürtige
Resonanzfläche. Kann man diese aufbieten, so ist das Lesen Wolfscher
Bücher ein unerreichtes Vergnügen. Mangelt es daran, so ist
man zu der ewigen Hölle verdammt, seine billige Erheiterung aus
den Hartz-IV-Fernsehformaten zu beziehen.
Eigentlich ist es wie in Ascot: Muss man dort den rechten Hut auf dem
Kopfe tragen, um Zugang zu erhalten, so wird das Entrée bei Tom
Wolf quasi eine morphologische Etage tiefer verhandelt: Hier ist ein
probater Kopf auf dem Halse erforderlich – sonst fliegt man schon
nach den ersten drei Zeilen aus der Erzählung.
Leider, leider stellen jedoch die unblutig Decapitierten, die zwar ein
Haupt auf den Schultern zu sitzen haben, eines funktional ertüchtigten
Inhalts jedoch entbehren, die Majorität im deutschen Volke. Insofern
darf man die Wolf'schen Krimis durchaus als Lackmus-Test für das
intellektuelle Potential einer Gesellschaft ansehen: Die verwichene
Nation der Musiker, Dichter und Denker darf sich wohl erst wieder auf
die Schulter klopfen, wenn sich Wolf ein Häuschen mit Seeblick
in Nidden zulegt. Der deutsche Geist aber versammelt sich derweil geruhsam
um Barbara Salesch, Sonja Zietlow und Peter Zwegert...
Diesem unglücklichen
Umstand geschuldet, ist der Kreis der glücklichen Genießer
jener Preußen-Krimis in etwa so begrenzt, wie der legendäre
Zirkel von Sanssouci. Tja, Hirn kann man eben nicht backen! Während
also die natürlich vorkommende Population von Anencephalen ohne
kriminelles Zutun zur Kopflosigkeit bestimmt ist, so müssen im
neuesten „Wolf“ die bedauernswerten Opfer, welche nun mal
für jeden Krimi obligatorisch sind, ihres Dachgeschosses im Verlauf
des Geschehens auf grausige Art verlustig gehen. Die düsteren Schilderungen
menschlicher Abgründe gemahnen ein wenig an Washington Irvings
„Sleepy Hollow“. Unverkennbar sitzt ihnen auch derselbe
Schalk im Nacken, der einst den amerikanischen Altmeister geritten hat.
„Das spanische Medaillon“ übertrifft jedoch dieses
Werk der Weltliteratur insofern, als Wolf, wie bereits erwähnt,
nebenbei noch einen profunden Geschichtsunterricht vermittelt. Was im
Text unterhaltsam geschildert wird, das findet seine ausführliche
Erläuterung – ein Markenzeichen des Hauses Wolf wie die gekreuzten
Schwerter unter dem guten Meißner – im wie immer komplexen
und umfangreichen Anhang. So preiswert kommt der Student der Historie
an kein Lehrbuch! Reizvoll auch immer wieder diese unnachahmliche Mischung
aus fiktiven und historischen Persönlichkeiten, die der Schriftsteller
agieren lässt. Es ist eine Lust, in die Erzählung hineinzubeißen,
wie in eine italienische Pizza Mista mit Olivenöl und allen veredelnden
Ingredienzen. Und es ist so leidvoll, wenn man sich dem letzten Abschnitt,
dem letzten Worte, gleich wie dem letzten Happen, konfrontiert sieht
und weiß: Einen Augenblick später ist es aus und vorbei –
sowohl mit dem Geschehen als auch mit dem Hochgenuss. Nun beginnt wieder
die triste Zeit des Darbens, das geistig-literarische Fasten. Aschermittwoch
allerwegen! Weiß der Fuchs, wie lange Wolf an seinen kleinen,
literarischen Pretiosen feilt – aufgefressen hat man sie in wenigen
Stunden. Und schmatzt und grunzt vor Vergnügen und reibt sich den
geistigen Wanst und... ja, ja, ich weiß, man sollte solche gedruckten
Kostbarkeiten mit Messer und Gabel... Aber woher denn! Liest man einen
Wolf mit Vergnügen, so ist allein in diesem Umstand die Erkenntnis
implementiert, dass einen der Allmächtige Vater Israels bei der
Verteilung von Kopf samt Inhalt nicht knausrig überging. Man gibt
seine zehn Euro für einen Wolf statt für zwanzig BILD-Ausgaben
aus. Statt dem drögen Gesülze von freuensuchenden Bauern und
keifenden prolligen Megären plätschert ein wenig Schumann
aus dem Radio, die Leselampe spiegelt sich im blassgrünen böhmischen
Buckelbecher mit dem roten Weine und vor dem geistigen Auge erhebt sich
die Morgensonne des in Preußen anbrechenden Biedermeier. Somit
gehört man nicht zum Dantesken Kreis der zur Kopflosigkeit Verdammten!
Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Dem tristen Rest aber sei zugerufen:
„Kopf hoch“. Es wird euch nichts mangeln – denn ihr
armen Schelme werdet nie erfahren, was ihr versäumt!
Tom Wolf
Das spanische Medaillon
be.bra verlag Berlin 2012
ISBN 978-3-89809-525-9
262 Seiten
€ 9,95