Spuren im Sand
Brandenburger Archäologen luden zum Jahresrückblick
Wolfgang Niemeyer stellt seine Grabungsergebnisse
vor
Kotofeij K. Bajun
Der Einmarsch der Archäologen
geriet auch in diesem Jahre wieder zum Triumphzug. Zum 20. Mal gaben
die Brandenburger Ausgräber vor offenem Publikum einen Überblick
zu den Ergebnissen ihrer Arbeit des zurückliegenden Jahres. Wenn
der Chef des Historischen Vereins, Udo Geiseler, zur Begrüßung
der Anwesenden mit dem Gedanken spielte, für die nächste Veranstaltung
dieser Art die Stahlhalle anzumieten, dann bezog er sich auf die wieder
weitaus mehr als 120 Gäste, die der Vortragsraum des Pauliklosters
kaum noch zu fassen vermag. Es sieht auch danach aus, als ob der Rückschau
der Archäologen, traditionell an jedem dritten Donnerstag des Jahres,
mehr und mehr Hörer anzieht. Die Archäologen ihrerseits taten
auch wieder alles, um diesem Trend Auftrieb zu geben. Eine spektakuläre
Kampagne löste den nächsten Sensationsfund ab. Sogar eine
Spange aus purem Gold fand nach Jahrhunderten den Weg aus der märkischen
Scholle in den Fundus des Archäologischen Landesmuseums. Abseits
von diesen mehr haptischen Ergebnissen aber förderten die Experten
für die aus dem Boden herauslesbare Chronik der Stadt nicht weniger
überraschende Erkenntnisse zu Tage. So warfen die Grabungen von
Dietgard Kühnholz im Bereich der Lindenstraße und Wolfgang
Niemeyers in der Kurstraße 30 ein liebgewonnenes Bild über
den Haufen. Glaubte der Hobbyhistoriker bislang, wenn er die Neustadt
aus der Vogelperspektive betrachte, er hätte eine exakte Blaupause
der Stadtanlageprojektierung der alten, genialen Lokatoren vor sich,
dann wurde diese Vorstellung von ergrabenen Fahrspuren von mittelalterlichen
Fuhrwerken erschüttert. Tief im Boden unter jahrhundertelanger
Bebauung der Oberfläche verborgen, künden diese Spuren davon,
dass die ursprünglichen Straßenzüge oftmals einen parallelen
oder sogar anders gerichteten Verlauf nahmen, als das aus dem heutigen
Stadtbild ersichtlich ist. Neuparzellierungen und Überbauungen
führten im Verlauf der Jahrhunderte zu dem Stadtgrundriss der Gegenwart.
Stefan Dalitz präsentierte seinen Brunnen und verlieh damit der
Neuschreibung der Göttiner Ortsgeschichte entscheidende Impulse.
Die präzise Bearbeitung der Brunnenhölzer wies auf frühdeutsche
Wertarbeit hin, die slawische Herkunft wiederverwendeter Schalhölzer
jedoch auf die enge wendische Nachbarschaft der Alteingesessenen zu
den deutschen Neusiedlern. Ebenfalls spannend die Vorstellung, welches
Landschaftsbild sich den Vorfahren geboten haben muss, als viele Seen
der südlichen Umgebung Brandenburgs noch nicht verlandet waren
und der Schmerzker See beispielsweise bis nach Göttin hinüber
eine ähnlich freie Wasserfläche bot, wie heute noch der Rietzer
See. Der dürfte wohl in tausend Jahren ebenfalls nur noch ein "Breites
Bruch" sein. Torsten Trebeß zeigte mit seinen Grabungen in
Schmerzke, dass das Havelland zur Zeit der Völkerwanderung nicht
ganz so verlassen und siedlungsarm gewesen sein kann, wie das bislang
landläufig angenommen wird. Joachim Müller wies am Neustadt
Markt anlässlich der Neubebauung eines alten Grundstücks nach,
dass ein Haus des 16. Jahrhunderts, dessen Kern in Ständerbauweise
leider nicht mehr zu retten war, eine für märkische Verhältnisse
ungewöhnliche Kelleranlage aufwies: Ein Raum des Untergeschosses
reichte bis weit unter die angrenzende Straße. Das sei so nur
aus den Hansestädten bekannt, so Müller. Mit seinem Zugang
auch von der Straße her, deutete der Stadtarchäologe dieses
Gelass als möglichen Verkaufskeller. Wolfgang Niemeyer hatte bei
seinem Grabungsobjekt Kurstraße 30 noch einen möglichen Tierstall
freigelegt, den er aufgrund seiner Größe vorsichtig mit zwei
Schweinchen besiedelt interpretierte. Nichts ungewöhnliches für
die damalige Zeit, in der auch Stadtbürger weitestgehend Eigenversorger
waren und ihre Parzellen zur Tierhaltung und Gartennutzung verwendeten.
Exakt aus diesem Grunde trug auch die Kurstraße einst den Namen
Kuhstraße, weil eben der Stadthirte die Rindviecher der Patrizier
und Handwerksmeister durch diese Straße zweiten Ranges zum Steintor
hinaus auf die Stadtweide trieb. Der Bescheidenheit überdrüssig
ersetzte man dann das profane Wort "Kuh" gegen das nobilitierende
"Chur", welches später wieder zur mehrdeutigen "Kur"
profanisiert wurde. Sollte nun Niemeyer mit seinen Schweinchen Recht
behalten, wie hätten sich die Altvorderen wohl dann mit ihren Gentrifizierungs-Attitüden
per Namensaufwertung beholfen? Mit anderen Worten – wie würde
wohl die Kurstraße dann heute heißen?
In der Krakauer Vorstadt, wo man nun wirklich kein zweites Troja vermuten
würde, förderten die Geschichtsspezialisten noch ein Schmankerl
zu Tage, was die Bauhistoriker aufhorchen lassen wird und Brandenburg
an der Havel einen Platz unter den Hans-Sharoun-Städten sichert.
Inmitten eines von „Hügel-Hermann“ Mattern angelegten
Gartens auf dem Gelände der Direktoren-Villa der Silbermann-Hutfabrik
hatte der Spitzenvertreter der organischen Architektur ein kleines Schwimmbad
mit angrenzendem Wintergarten komponiert, von dem leider nur noch eine
Ziegelmauer kündet. Vom Knochen-Würfel, dessen Seiten noch
nicht zum Siebener-Standard aufsummierten, bis über den ersten
Nachweis einer Siedlung der havelländischen Kultur im Bereich der
heutigen Stadtmauer – die Archäologen konnten wieder ein
Feuerwerk an Neuigkeiten aus der Stadtgeschichte abbrennen. Auch wenn
die einzelnen Vorträge in den zweieinhalb Stunden mitunter so profiliert
einherkamen, dass sie samt den gezeigten Bildern eher an ein Fachpublikum
als an interessierte Laien adressieren, der Attraktivität des archäologischen
Jahresrückblicks tut das nicht den mindesten Abbruch. Beweisen
die Ausführungen der Ausgräber doch, dass jeder Brandenburger
auf den Schultern von hunderten Generationen steht, die dieses liebenswerte
Fleckchen Erde vor ihm bewohnt, bebaut und geprägt haben. Stolz
und Verpflichtung zugleich!