Magamogatari - oder "Der
verpasste Frieden"
Eine Tragödie aus dem
alten Japan
zum 44. Todestag Frau Heidi Hübners dem Andenken dieser wunderbaren
Dame gewidmet
Das Wakizashi General Natsuno Kusaemons
Akinokawa
Michi
Als der altehrwürdige Kumo-Ji-Tempel Ende letzten Jahres umgebaut und
seine Bibliothek aus der Heian-Zeit restauriert wurde, tauchte ein verschollen
geglaubtes Manuskript aus der Zeit der kämpfenden Reiche auf, das eine
menschliche Tragödie großen Ausmaßes beschreibt.
Zwei benachbarte Clans,
wie das im alten Japan üblich war, standen sich in törichter Feindschaft
gegenüber. Das Haus östlich des Yodo-Gawa wurde von der Fürstin Magamo
Shinosai geführt. Einst diente dieser Dame der General Natsuno Kusaemon.
Er war ihr treu und bedingungslos ergeben. Aus bislang ungeklärten Gründen
verkündeten spätere Aufzeichnungen, dass Natsuno Herr der Burg Nekoda
am westlichen Ufer des Yodo-Flusses wurde und damit einen dem Hause
Magamo feindlich gesonnen Clan anführte. An der Spitze der Truppen dieses
Nachbarklans stand er zu dieser Zeit der Armee der Fürstin gegenüber.
Deren Soldaten wurden geführt von einem aufrechten und tapferen Samurai,
dem erfahrenen Krieger Hiroji Monsuke. Erste Gefechte wiesen auf ein
blutiges Ende der bevorstehenden großen Schlacht hin, bei dem nicht
absehbar war, welches Haus den Kampf überstehen würde.
Ein Mönch vom Hiei-zan, Sakeji Taroo, lud in dieser verzweifelten Situation
die beiden Generäle, die einander nie vorher begegnet waren, und sich
lediglich über Boten gegenseitig bedroht hatten, zu einer gemeinsamen
Teezeremonie ein. Es war ein Zeichen des Verstandes und des Willens
zur Verständigung, dass beide Generäle der Einladung folgten. Der Verlauf
des Gesprächs und die folgenden Ereignisse der beiden Kriegsherren ist
in jenem, leider stark beschädigten und nur bruchstückhaft überlieferten
Manuskript wiedergegeben, das im Kumo-Ji nach Jahrhunderten wieder zum
Vorschein kam.
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"Hört, Herr Hiroji“,
begann General Natsuno, „natürlich habe ich in der Vergangenheit schwere
Fehler gemacht, auch und gerade in Bezug auf Eure Herrin. Aber nun müssen
wir sehen, dass wir Schlimmeres verhindern. Die Armeen stehen sich waffenstarrend
gegenüber. In der Hauptstadt beobachtet man genau, was sich hier tut
und glaubt mir, an den Grenzen stehen Feinde, weitaus mächtiger als
wir beide, die nur darauf warten, dass wir blutend am Boden liegen.“
Nachdenklich betrachtete Herr Hiroji die Teeschale, die aus dem Besitz
des Teemeisters Yamanoue Soji stammte. Ein schönes Stück, tiefwandig
und wohlgeformt, mit dezenter Glasur. Dann nickte er: „In der Tat, Kusaemon,
Ihr habt Fehler gemacht. Die Dame Shinosai liebte Euch einst. Sie vertraute
Euch. Jetzt sinnt sie auf Euren Untergang. Ihr, die Ihr immer gepredigt
haben sollt, man solle den Gegenüber niemals das Gesicht verlieren lassen,
Ihr habt Eurer Lehensherrin genau das angetan!“ „Das mag sein“, antwortete
der Herr von Nekoda. „Aber ich glaubte es meiner Lehenstreue ihr gegenüber
schuldig zu sein, ihr offen und gerade heraus sagen zu müssen, wo sie
sich offensichtlich falsch und dumm verhielt. Nach außen habe ich sie
mit meinem Leben geschützt – so, wie Ihr das jetzt tut!“ „Kusaemon!
Sie ist eine Frau. Glaubt Ihr im Ernst, sie könne mit solcher Kritik
umgehen, wie Ihr und ich? Und wolltet ihr nicht sogar ihre Tochter,
Prinsessin Hime Koushi san, entführen?“ „Um Eure Frage zu beantworten:
Mit Kritik kann diese Hohe Frau überhaupt nicht umgehen! Sie versteht
sie nicht mal. Kritik bedeutet für sie nur nackte Aggression. Und genauso
reagiert sie. Was Hime Koushi san betrifft: Ich liebte die Prinzessin
wie eine eigene Tochter. Ich sah sie in Gefahr bei einer Mutter, die
dieses kluge Mädchen nie verstand. Für die dieses Kind eine Art lebendiger
Einrichtungsgegenstand gewesen war, ein Ikebana-Arrangement in einer
Nische ihres Biwa-Palastes. Ihr wisst nicht viel über diese Sache und
die Dame Shinosai weiß noch weniger.“
„Dennoch“, sagte Monsuke, und erhob sich von seiner Tatami, zu einem
abgeblühten Kirschbaum hinüberschlendernd, „habt Ihr sie damit ins Herz
getroffen!“ Unwillig fuhr General Natsuno herum. Beinahe zerschlug sein
Katana dabei die kostbare Teeschale. „In welches Herz denn? Wovon redet
Ihr?“ „Seid nicht albern. Auch sie hat eines. Ihr wollt es nur nicht
mehr sehen!“
Versonnen zog sich Hiroji einen Zweig des Kirschbaumes herab. Natsuno
nahm wieder Platz: „Sie hatte mich von einem Tag auf den anderen nach
Sakai geschickt. In meinem Haus sollte ich auf Ihren Befehl hin Seppuku
(Harakiri) begehen!“
„Was Ihr nicht tatet, General Natsuno. Stattdessen seid Ihr zum Feind
übergelaufen. Habt sogar nach dem Tode des Fürsten die Führung des Hauses
übernommen. Steht jetzt an der Spitze einer Armee, die uns bedroht.
Sicher, die Fürstin hat Euch verbannt. Und wenn ihr Zorn verraucht wäre,
dann hätte sie Euch sicher begnadigt. Aber bedroht hat sie Euch nie.“
„Bis jetzt, Monsuke, bis jetzt! Eure Truppen überschritten zuerst den
Yodo.“
„Was sollte sie denn machen“, fragte General Hiroji lakonisch. „Warten,
bis Ihr mit Euren Samurai bei ihr im Burghof steht, mit blankgezogenem
Schwert? Denkt nur an die Botschaften, die Ihr unserem Hause zukommen
ließet. Freundlich waren die nicht.“ „Monsuke!“, Natsuno verbeugte sich
aus seinem Sitz und drückte seine Strin bis auf die Reismatte, „ich
bitte Euch um Entschuldigung!“
„Nun ja“, antwortete der Angesprochene begütigend, „lasst uns das vergessen!
Lasst uns zusehen, wie wir die Schlacht vermeiden können. Ich werde
mein möglichstes tun.“
„Ich desgleichen,“ rief Natsuno. „Als erstes werde ich meine Truppen
zurück in ihre Quartiere befehlen. Vielleicht solltet Ihr ebenso verfahren.
Dann wäre bereits die größte Gefahr abgewehrt.“ „Ja, darüber lässt sich
reden“ antwortete ihm Hiroji. „Dann aber noch etwas“, sagte Natsuno,
als sich Hiroji bereits zum Gehen wandte: „Eure Fürstin hat mir die
Shinobi (Ninja) aus der Provinz Iga auf den Hals gehetzt. Ihr wisst
das. Sie soll sie zurückrufen!“
General Hiroji zögerte: „Ich weiß davon. Für sie war es Notwehr. Sie
fühlte sich wirklich von Euch in die Enge getrieben. Deshalb weiß ich
nicht, ob mir das gelingt. Ihr Herz ist verschlossen gegen Euch und
hart wie Fels. Sie sieht rot, wenn sie nur Euren Namen hört!“ „Versucht
es!“, bat Natsuno. „Ihr seid in der Angelegenheit meine einzige Hoffnung.
Ich kann diese Drohung gegen mein Leben nicht tolerieren! Wie sie denkt,
das glaube ich noch sehr gut zu wissen. Schaut Euch das genau an, Monsuke.
Das hier“, und er nahm seine Augenklappe ab, die das erblindete Auge
verbarg, „und das“, er zeigte auf seine verkrüppelten Füße, „und meine
verbrannte Seele sind das Einzige, das ich in ihrem Dienst als Lohn
empfing. Seht hin und lernt! Tut es für Euch!“ „Kusaemon, so solltet
Ihr wirklich nicht über die Dame reden, zumal auch Ihr Euch ihr gegenüber
eines schweren Fehlverhaltens schuldig gemacht habt!“
„Mehr will ich Euch sagen, General Hiroji, weil ich es gut mit Euch
meine, und ich etwas darum geben würde, Euer Freund zu sein: Mangelnde
Einsicht, panische und irrationale Angst, sowie blanker Hass sind die
Zutaten zu einem Schießpulver, wie es die Chinesen nicht grausamer erfinden
konnten. Die Jesuiten-Pater, die ich am Hofe Fürst Hideyoshis in Osaka
traf, erzählten mir von einer Sage aus dem Westen. Es ging da um eine
Insel, auf der zauberische Frauen lebten, wunderschön von Angesicht,
unwiderstehlich der Gesang ihrer Stimmen. Seefahrer, die an diesem Eiland
vorübersegelten und diesen Gesang vernahmen, konnten nicht anders, als
mit ihren Schiffen und Booten auf die gefährlichen Gestade zuzuhalten.
Sie zerschellten an den Klippen und ersoffen wie die jungen Hunde. Vergeblich
wimmerten und schrien sie zu den Frauen, ich glaube, die Patres nannten
sie Sirenen, die sie ins Unglück gezogen hatten. Eiskalt und mit unbewegtem
Blick, mitleid- und gnadenlos sahen diese Zauberinnen dem Verderben
der armen Teufel zu. Glaubt Ihr, Monsuke, so etwas gäbe es nur im Westen?“
General Hiroji, der noch einmal auf einem Kriegsschemel Platz genommen
hatte, erhob sich schweigend. Dann drehte er sich um und sagte leise:
„Vieles von dem, was Ihr sagt, Kusaemon, ist mir bekannt. Aber vieles
von dem hätte nie gesagt werden dürfen. Ich sage es Euch noch einmal:
Sie hatte Euch einst geliebt. Und wärt Ihr besser mit der Dame umgesprungen,
sie hätte Euch Ihre Liebe und Treue bis ans Lebensende bewahrt. Dass
sie Euch verstieß, das war Eure Unfähigkeit, sie so zu nehmen, wie sie
war. Das müsst Ihr einsehen!“ Dann wandte er sich ab.
General Natsuno beschloss, mit dem Ausgang des Gesprächs zufrieden zu
sein. Ein Sieg der Vernunft war erreicht worden. Das gab Anlass zur
Hoffnung und so wandte sich General Natsuno seinen Truppen zu, versammelte
seine Offiziere und gab ihnen den Rückzugsbefehl. Dann ritt er heim
nach der Burg Nekoda und ließ sich eine Vase Sake bringen, während er
sich von seiner Rüstung befreien ließ. Froh verkündete er auch den Hofbediensteten
und Freunden, dass es nun wohl doch keinen Krieg geben werde. Die Sympathie,
die er für seinen einstigen Gegner und Todfeind Hiroji gewonnen hatte,
ließen in seinem Herzen ein großes Vertrauen zu diesem aufrechten Samurai
erwachsen. In der Folgezeit wurden mitunter auch freundliche Noten und
Einladungen zwischen Nekoda und der Burg Mitsunosuda, dem Sitz der Fürstin
Magamo, ausgetauscht. Die Fürstin selbst ignorierte diese Zeichen der
Entspannung und kultivierte derweil ihr Misstrauen gegen ihren ehemaligen
Vasallen und Favoriten, dem sie einst, wenn er aus ihrer Burg hinausritt,
noch lange am Fenster hinterhergesehen und gewunken hatte.
Außer in ihren Gemächern blühte die Hoffnung auf Frieden dennoch wie
ein Pflaumenbaum im vierten Vollmond.
Nur wenige Wochen später aber drang aufgeregtes Geschrei über den Burghof
der Feste Nekoda. Die Tore der Burg wurden für einen eilig heranstürmenden
Boten aufgerissen. Beinahe noch im Galopp sprang der Bote vom Pferd
und kniete vor dem Burgherren: „General Natsuno, Herr, Eilmeldung von
der Flussfestung! Kommandant Herr Otsuma Akita sah im Morgengrauen mächtige
Feindkontingente den Yodo an mehreren Stellen überschreiten. Sie werden
von General Hiroji geführt. Das Banner mit den drei Federn wurde bereits
auf unserer Seite des Yodo aufgepflanzt. Die Vorhut der Truppen hält
auf Nekoda zu!“
Natsuno wurde bleich. „Versorgt den Mann“, rief er einigen Samurai zu.
„Und dann sendet einen Boten zu General Hiroji! Fragt ihn, was das zu
bedeuten hätte.“ Tief besorgt zog er sich in die Halle der Burg zurück
und ließ die Armeekommandeure zusammenrufen. Nach wenigen Stunden bereits
meldete sich der Bote zurück. Er kniete am Eingang der Halle und übergab
einen Brief Hiroji Monsukes. Natsuno erbrach das Siegel und überflog
das Schreiben. Dann las er es seinen Offizieren vor, bemüht, seiner
Stimme einen tiefen und kräftigen Klang zu erhalten. „Herr Hiroji Monsuke
schreibt: 'Was fragt Ihr mich nach meinen Truppenbewegungen? Fürstin
Magamo unterrichtete mich, starke Verbände aus dem Hause eines Eurer
Vasallen hätten bereits gestern den Fluss in unsere Richtung überschritten.'
Wer, bei allen Dämonen der Hölle hat das veranlasst? Ich hatte eindeutig
den Rückzug befohlen!", brüllte Natsuno. Die Offiziere schwiegen.
„Das ist Hochverrat!“ tobte der General. „Das bedeutet unausweichlich
Krieg, ihr Narren!“ „Bei allem schuldigen Respekt, mein Fürst“, ließ
sich der älteste Lehnsmann, Hanzei Mansuo, vernehmen, „ein Krieg, den
auch Ihr bis vor Kurzem noch gutgeheißen habt!“ „Bis vor Kurzem, Mansuo,
bis vor Kurzem! Dinge ändern sich. Schickt einen Boten zur Fürstin Magamo!
Bittet um Entschuldigung! Versichert der Dame, dass es sich um einen
Irrtum handelt! Dass der Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wird!
Raus!“
Die Offiziere entfernten sich eilig. Der Bote wurde mit dem Schreiben
ausgestattet und auf den Weg geschickt. Desungeachtet begannen unverzüglich
die Vorbereitungen zum Gegenangriff. Lanzenbewährte Kompanien rannten
zum Tor. Reiter galoppierten hinaus. Schreie und Befehle hallten über
den Burghof. Die Wehrgänge wurden besetzt. Bogenschützen sammelten sich.
Musketiere bereiteten ihre Waffen vor. Von seiner Varanda aus sah General
Natsuno dem hektischen Treiben schaudernd zu. Ihm war, als sei ihm das
Blut in den Adern gefroren.
Angespannt verliefen einige Stunden. Dann kam der Bote, der nach Mitsunosuda
gesandt worden war, zurück. Er sah bleich aus, war völlig außer Atem:
„Mein Herr, Fürstin Magamo ließ mich nicht in die Burg. Sie hält Euch
für einen ausgemachten Strolch und Lumpen, dem sie, vergebt mir, nicht
einmal so weit traut, wie sie Euch sieht. Im Gegenteil, sie hält Euch
jeder Schurkerei für fähig. Von der Burg herab ließ sie sofort auf mich
schießen. Ich kam nicht einmal zu Wort!“ Natsuno stöhnte gequält auf.
'Was tat ich dieser Dame', dachte er. 'Ich war der ehrlichste Mensch,
den sie je an ihrer Seite hatte. Ich liebte sie aufrichtig und von ganzem
Herzen. Ich meinte es immer nur gut mit ihr. Habe sie nie verraten.
Aber wer die Wahrheit auf der Flöte spielt, muss sich nicht wundern,
wenn man ihm die Flöte um die Ohren haut.'
'Aber was sie jetzt tut', so schoss es ihm durch den Kopf, 'das hat
mit einer rellen Einschätzung der Lage nichts mehr zu tun! Wenn sie
noch einen Funken Verstand hat, dann muss sie doch wissen, dass es hier
keinen Sieg zu erringen gibt. Das bedeutet den Untergang für uns alle!
Ist sie denn verrückt, sind es ihre Ratgeber? Hiroji ist ein kluger
Mann. Er spricht mit der Stimme der Vernunft. Hat er denn gar keinen
Einfluss mehr auf sie?' Von bösen Vorahnungen gequält, steckte sich
Natsuno das Wakizashi, das Kurzschwert, in den Gürtel seines Kimono.
Er trat auf die Vortreppe hinaus und sah in den Himmel. Wolken jagten
tief über ihn dahin und hüllten die nahen Berge in dichten Nebel.
'Was sind Menschen für elende Dummköpfe', dachte der alte General. 'Es
gelingt ihnen, wenn sie nur über einen Funken Geist verfügen, dass sie
aus Feinden zu Freunden werden. Mit ein wenig gutem Willen kann man
über die Laufgräben hinweg verhandeln. Lösungen finden.' Sein Übereinkommen
mit General Hiroji hatte das eindrucksvoll bewiesen. Aber diese Frau...
Sie entbehrte des Mutes, des Vertrauens, der Fähigkeit, über ihren eigenen
Schatten zu springen. Sie kannte sowieso nur sich selbst. Natsuno glaubte
fest, dass sie auch den tapferen, ehrlichen General Hiroji nur vor ihren
Karren spannte. Sie konnte nicht lieben. Nicht einmal sich selbst. Davon
war er nun überzeugt. 'Ich dummer alter Narr!', schalt er sich, 'Ich
hätte es besser wissen können, seit Jahren schon. Wenn ich die Augen
aufgemacht hätte. Aber ich wollte nicht sehen. Wenn ich meine Ohren
nicht verschlossen hätte gegen die, welche es gut mit mir meinten und
mich warnten. Ich habe diese Leute selbst zum Teufel gejagt, vor den
eigenen Verwandten nicht halt gemacht. Meine Treue zu der Dame Magamo
Shinosai ging mir über alles. Ließ mich gegen alle Vernunft blind und
taub werden. Bis sie mir den Tod befahl. Und selbst dann brauchte ich
noch geraume Zeit, um mich von meinen Illusionen zu lösen. Aber alles
im Leben fordert seinen Preis. Alles, was man tut, und alles was man
lässt. Nur das, was geschieht, belehrt uns, ob wir einst richtig entschieden,
eine Situation richtig eingeschätzt haben.' Mit schwerem Herzen schlich
der General in sein Privatgemach. In einem chinesischen Schränkchen
mit Drachen- und Tigerintarisen und einem Überzug aus Urushi-Lack verwahrte
er eine kleine, kunstvolle Porzellan-Ente, ein Geschenk der Dame Magamo
Shinosai aus glücklicheren Tagen. Natsuno setzte sich und betrachtete
die zierliche Arbeit lange und nachdenklich.
Die kleine Ente schien aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit
zu stammen. Aber dennoch: Sie bewies: Einst hatte die Fürstin des Hauses
Magamo ihren General Natsuno mit ihrer Gunst überschüttet. Doch das
war nun vorbei und so, als sei es nie geschehen. Diese Dame schuf sich
in ihrem Hirn eine Wirklichkeit, die mit dem, was für jedermann sonst
sichtbar war, weniger und weniger zu tun hatte. Sie fühlte sich verfolgt
und sie wurde zur Furie, wenn sie ihren Willen nicht bekam. Ihr dieses
törichte Verhalten immer wieder vor Augen führend, merkte Natsuno nur
sehr schwerfällig und langsam, wie sie sich mehr und mehr von ihm entfernte,
bis sie ihren General, der für sie bedingungslos sein Leben gegeben
hätte, verbannte und ihm den Seppuku anbefohl.
Doch Natsuno entschied anders: Er dachte nicht daran, für eine in seinen
Augen verrückt gewordene, selbstsüchtige Dame zu sterben. Es würde niemandem
nutzen. Er wäre tot, und sie würde schrankenlos weiter wüten. So beschloss
er, sich der Dame Magamo Shinosai in den Weg zu stellen. Wer ihn mit
solcher unsagbaren Ungerechtigkeit, Missachtung und Niedertracht verfolgte,
der hatte keinen Anspruch mehr auf Loyalität. Doch lohnte es auch, viele
Unschuldige in diesen Konflikt mit hineinzuziehen? Das machte ihm Sorgen.
Das veranlasste ihn, auf die Vermittlung des Mönches Sakeji einzugehen
und sich mit General Hiroji zu treffen. Nun aber marschierten die Armeen.
Jetzt würde die Hölle losbrechen und eine verwüstete Landschaft hinterlassen.
Die Dame Shinosai würde das nicht stören. Sie saß auf ihrer Burg Mitsunosuda
und wähnte sich in trügerischer Sicherheit.
Natsuno ließ sich sein Pferd bringen, sprang auf und ritt, von nur wenigen
Kriegern begleitet, in das Lager seines Freundes General Hiroji. Die
Wachen traten erstaunt zur Seite, hoben aber dennoch die Vorhänge und
ließen den Feind unbehelligt passieren. Hiroji, auf einem Feldschemel
sitzend, blickte finster drein. Als er Natsunos gewahr wurde, huschte
ein kurzes Lächeln über sein Gesicht: "Ihr seid es. Setzt Euch!
Trinkt eine Schale Sake mit mir!" Ein Page brachte die Sake-Vase
und zwei Schalen. Schweigend saßen die beiden Männer nebeneinander und
sahen über das Feldlager hinweg zu den fernen Bergen der Provinz Oomi,
die sich schwachblau am Horizont abzeichneten.
Dann wandte sich Hiroji resigniert an seinen Freund: "Sagt mir,
was ich noch tun soll! Ihr könnt nicht von mir verlangen, dass ich mich
gegen sie stelle. Das werde ich nie tun. Ich werde zu ihr halten bis
zum bitteren Ende." "Monsuke, das ehrt Euch! Und auch ich
habe einst so gedacht und gehandelt. Deshalb verstehe ich Euch. Und
weil ich nicht auf ihr Verderben sinne, begrüße ich es auch, dass Ihr
nun an ihrer Seite steht. Etwas Besseres hätte uns wohl allen nicht
passieren können. Lasst mich folgenden Vorschlag unterbreiten: Führt
Eure Soldaten in ein Gelände, das eine Schlacht nicht möglich macht.
Ich denke da an die Reisfelder von Hakone. Ihr tut Eure Pflicht. Aber
Ihr tut sie so, dass wir nicht aufeinander treffen müssen. Ich will
dasselbe tun und werde meine Truppen in die Wälder von Moriama schicken.
Monsuke! Der Irrsinn muss enden, ehe er begonnen hat! Das gewinnt ein
Eigenleben, das wir beide nicht mehr beherrschen. Es mischen jetzt schon
zu viele Leute mit, die sich auf unsere Kosten ihren Teil vom Reiskuchen
sichern wollen."
Natsuno kippte eine weitere Schale hinunter. Doch Hiroji hob den Kriegsfächer
und schwenkte ihn über das Lager. "Wie recht Ihr habt...! Seht,
Kusaemon, Ihr denkt, ich hätte noch die Gewalt über diese Armee. Ihr
täuscht Euch. Meine Offiziere haben sehr wohl die Intention ihrer Herrin,
die in der Kriegsfrage nicht mehr länger auf mich hört, verstanden,
und sie brennen auf den Krieg! Mein Zögern hat sie mißtrauisch gemacht.
Die Fürstin und ihre Kommandeure haben mich kalt gestellt."
General Natsuno blickte auf seinen Helm mit dem Mon der drei ineinandergreifenden
Kreise. Sein Pferd, das von einem Knappen gehalten wurde, tänzelte unruhig
hin und her. Traurig erhob er sich und griff nach seinem Bogen. "Monsuke,
um ehrlich zu sein, mir geht es nicht anders. Ich habe im Kriegsrat
den Unwillen General Hanzeis gespürt. Er ist der dienstälteste Vasall
des Hauses. Diente bereits meinem Vorgänger. Ich weiß, dass ihm viele
folgen. Sie fordern von mir, sie ins Feld zu führen. Weigere ich mich,
verliere ich meine Macht. Dann zwingen sie mich zum Seppuku. Also kann
auch ich mich nur noch an die Spitze meiner Soldaten setzen und dort
versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Doch auch die Beauftragung
der Schatten aus Iga ist ein schwerwiegendes Hindernis. Ihr wisst so
gut wie ich, Monsuke, dass diese Maßnahme völlig überzogen war und auf
einer wahnhaft übersteigerten Sicht der Dinge beruhte. Aber damit setzte
sie mir buchstäblich das Messer an die Kehle. Sie hat einen offenkundigen
Irrtum begangen - und es ist ihre Pflicht, diesen Irrtum einzugestehen
und den Mordbefehl öffentlich zu widerrufen! Tut sie das nicht und beharrt
sie in ihrem nicht mehr anders als dumm zu nennenden Stolz, zwingt sie
mich und die Meinen, unsere Truppen nicht nur nach Iga, sondern auch
nach Mitsunosuda zu senden. Wer sich irrte, der muss für seinen Irrtum
einstehen, zumal mehrmals bewiesen werden konnte, dass sie
sich nunmehr auf dem Holzweg befindet! Die Verantwortung für Fehler
zu übernehmen, gilt für unsereinen, mein Freund - das gilt aber auch
für eine Fürstin ihres Ranges. Noch ist sie keine Göttin, dass sie sich
über irdische Gesetze hinwegssetzen und die Welt ihren krankhaften Launen
unterwerfen kann!"
"So mäßigt Euch
doch, Genaral Natsuno", Hiroji blickte den Freund unwillig an.
"Ihr würdet sie ein weiteres Mal das Gesicht verlieren lassen,
denn Ihr wisst genau, dass es nicht ihrem Naturell noch ihrem Vermögen
entspricht, einen Fehler einzugestehen. Lasst die Sache ruhen und ich
werde dafür sorgen, dass kein Schatten die Grenzen von Iga überschreitet.
Die Sache verläuft im Sande. Stellt Ihr sie wieder bloß, ist niemandem
gedient. Im Gegenteil. Ihr facht ihren Hass nur weiter an, wie der Herbstwind,
der seine Böen in ein brenndes Haus schickt. Ihr beklagt die Enge ihres
Wesens, Ihr beklagt ihr wahnhaftes Erleben, Ihr beklagt ihren unsinnigen
Hass - aber was passiert denn, wenn Ihr mit den Waffen Euer gekränktes
Recht durchsetzt? Nehmen wir an, Ihr seid erfolgreich. Meint Ihr ernsthaft,
Ihr könntet sie zum Überdenken ihrer Fehler zwingen? Vielleicht würde
ihr Mund aus Angst sagen, was Ihr hören wollt, wenn Ihr der Dame Euer
Schwert auf die Brust setzt. Aber meint Ihr, in ihrem Herzen hättet
Ihr etwas geändert? Das ist doch Unfug! Im Gegenteil! Sie würde sich
mehr und mehr in ihrer Meinung Euch gegenüber bestätigt fühlen und jeder,
der ihr mit vernunftgetragenen Argumenten käme, wäre für sie nur noch
ein Teil einer von Euch angezettelten Verschwörung. Ihr, Kusaemon, wäret
Derjenige, der sie erst richtig in ihren Wahn hinein jagen würde. Wenn
sie dann Dinge täte, die kein normaler Mensch mehr verstünde - es wäre
allein Euer Werk! Und nebenbei gesagt auch Eure Schuld! Denn Schuld
entsteht da, wo Menschen wider besseres Wissen falsche Dinge tun. Und
das wäre falsch! Verfolgt Ihr die Sache weiter, dann seid Ihr nicht
anders, als Ihr es der Fürstin Schinosai vorwerft. Nein, Ihr seid schlimmer.
Denn sie weiß es nicht besser. Sie kann nicht anders. Ihr aber habt
die Kraft und den Verstand, die ihr nach Eurer Meinung fehlen. Ihr habt
es damals schon nicht verstanden, sie so zu nehmen, wie sie ist und
nur sein kann - und Ihr tut es heute noch nicht. Ihr, der sie so gut
kennt, wie kaum jemand sonst. Und Ihr werft der Fürstin Schwäche vor?
Kusaemon - ausgerechnet Ihr?"
"Hmm..."
Natsuno fasste sich an das Kinn und dachte nach. "Ich könnte Eurem
Vorschlag sogar noch folgen. Selbst wenn ich mich damit in große Gefahr
begebe. Denn wer sagt mir, dass sie sich nicht im nächsten Augenblick
wieder von irgendwelchen Dämonen verfolgt fühlt! Es bedarf keiner näheren
Versicherung, dass ihre
Person für mich immer unantastbar gewesen ist. Ich hätte ihr nie etwas
getan, sie nicht einmal angefasst. Der Gedanke an sich ist schon verrückt
und zeigt, wie weit entfernt sie schon von jeder sachlichen Beurteilung
ist und wie gefährlich sich ihre Wahrnehmug der Dinge bereits in ein
Dickicht verirrte, das kaum mehr berechenbar ist. Nein, ihre Art ist
es, den Kopf in den Sand zu stecken und die unangenehmen Sachen auszusitzen.
Sich ihnen zu stellen - niemals. Wenn es anders keine Ruhe gibt, weil
sie anderen auf die Füße trat und diese nun ihr Recht fordern, dann
will sie die Dinge mit Gewalt lösen. Ungeachtet der Folgen. Denn diese
einzukalkulieren war ihre Stärke noch nie gewesen. Sie glaubt allen
Ernstes, sie schlägt zu und das war's dann. Monsuke, sagt selbst: So
aberwitzig weltfremd kann man doch gar nicht sein!
Aber um des Friedens
Willen wollte ich Euren Vorschlag in Erwägung ziehen, denn Ihr habt
recht: Wer kennte ihre enormen persönlichen Beschränkungen besser als
ich! Das ist es ja, was ich ihr über Jahre hinweg vorhielt: Sie gebärdet
sich wie eine große Herrin und übt schrankenlos ihre Macht gegen die
aus, die ihr ausgeliefert sind. Sich selbst aber gegenüber ist sie hilflos
wie ein Kind. Sich selbst kann sie gar nichts befehlen, schon lange
nichts, was sie eine Überwindung kosten würde. Sie wird nie zugeben,
dass sie sich irrte. Da verhält sie sich einfach wie ein kleines Mädchen,
dass die Hände vors Gesicht schlägt und glaubt, wenn es selbst nichts
mehr sieht, dann werde es auch nicht mehr gesehen und demzufolge in
Ruhe gelassen.
Deshalb klammert sie
sich in all ihren Handlungen so sehr an hohle und sinnlose Prinzipien,
mit denen sie die Welt quält und denen sie bedingungslos alles opfert,
was es auch sei. Es ist ihre Angst vor dem freien Spiel der Dinge. In
ihrem Herzen ahnt sie ihre geringe Auffassungsgabe und ihre mangelnde
Souveränität über ihr eigenes Leben. Sie hat Angst vor jeder Veränderung,
die sie nicht beherrscht. Deshalb diese Starrsinnigkeit. Sie muss ständig
durch Gewalt ersetzen, was mit leichter Hand zu beherrschen wäre, wenn
nicht panische Furcht vor Allem und Jedem ein entspanntes Reagieren
unmöglich machte!
Aber wie gesagt, ich
könnte mit Euren Vorstellungen leben - denn ich traue Eurem Wort. Meine
Generale und Offiziere aber denken da anders. Vielleicht genauso überreizt
und unsinnig, wie Eure Herrin. Doch kann man es ihnen verdenken? Die
Bedrohung, die von Iga ausgeht, ist real. Das kann ich nicht wegreden.
Denzufolge liegt der Schlüssel zum Frieden, egal was meine bisherige
Schuld gewesen sein mag, nunmehr in den Händen einer erwachsenen Frau
mit dem Herz und dem Wesen eines kleinen Kindes. Was soll denn nun bloß
werden?"
"Ich weiß es nicht, Kusaemon. Ich bin müde. Seht, ich bin auch
nicht mehr gar so jung. Schnell geht das Leben an uns vorüber. Wie ein
fliegender Schatten. Wir fallen, ehe wir uns noch dreimal um uns selbst
drehen, wie die Kirschblüten im Frühling. Und das wenige Leben, das
wir haben, das machen wir uns zur Hölle." "Ihr habt recht,
Monsuke, ihr habt recht. Es ist die törichte Dummheit, auch meine, mein
Freund, die uns um das Wenige bringt, das wir auf dieser Welt besitzen
dürfen. Dann werde ich nun also wieder gehen müssen. Ein zweites Mal
kann ich nicht fliehen. Ich habe um den Frieden gekämpft. Aber Kampf
ist kein Versprechen auf Sieg. Versteht mich, Monsuke, ein Leben mit
beschädigter und verratener Ehre ist keines mehr. Ich ziehe also den
Tod auf dem Schlachtfeld der Flucht oder dem Seppuku vor. Wenn Euch
Eure Soldaten meinen Kopf bringen, dann bitte ich Euch, Ihr wolltet
ihn ehrenhaft im Kumo-Ji begraben und verhindern, dass er angespuckt
wird. Ich werde für Euch dasselbe tun. Mögen uns doch die Götter noch
ein Wunder gewähren! Es wäre schön, wenn ich Euch nach der Schlacht
weiterhin als Freund begegnen dürfte."
Damit verneigte sich Natsuno tief, setzte seinen Helm auf und ging zu
seinem Pferd. Mit einem Sprung saß er im Sattel, ließ sich den Bogen
reichen, fasste einen langen Speer, verneigte sich noch einmal gegen
seinen Freund und das Mon mit den drei Federn der Dame Magamo Shinosai.
Dann gab er dem Pferd die Sporen und ritt zurück zur Burg Nekoda. Der
Krieg war nicht mehr zu aufzuhalten ...
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An dieser Stelle endet das Manuskript. Über den Ausgang des Krieges
und das Schicksal des Hauses Magamo ist nichts mehr bekannt. Die drei
Federn waren jedenfalls in der gewaltigen Schlacht von Sekigahara nicht
mehr zu sehen. Die Tokugawa-Shogune zählten sie nicht mehr zu ihren
Vasallen. Es wurde berichtet, dass es bis in die Regierungszeit des
Kaisers Tomihito im Garten des Kumo-Ji einen aus Granit gehauenen Bambusstab
gegeben haben soll, in dem ein ebenfalls steinernes Wakizashi quer eingearbeitet
war. Ein stilisierter Kirschzweig war dem Kurzschwert übergehängt worden
und ließ seine Ästchen mit den Blättern und Blüten nach unten ranken,
das Kurzschwert halb verdeckend. Im Bambusstab meinten manche das Zeichen
"Gras" und das Zeichen "Tor" gelesen zu haben, das
zusammengenommen Kusaemon geheißen haben mochte.
Auch über das Schicksal des tapferen, klugen, loyalen und stets um Verständigung
bemühten Generals Hiroji war nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Über
die hügeligen Ufer des Yodokawa aber, entlang eines kalten, steinigen
Weges, wehte ein lauer Wind durch den Bambus und ließ dessen längliche
Blätter leise rascheln, just dort, wo einst zwei Generale versucht hatten,
den Frieden zu retten und auf diese Weise auch eine Dame zu beschützen,
die sich selbst im Wege stand und in ihrem Wahn keine Grenzen mehr kannte.
Eine Fürstin, der Barmherzigkeit und Vergebung nichts mehr galten.
Dann setzte der Regen ein. Erst ganz zart, dann in mächtigen Tropfen.
Ein Mäuschen aber suchte Schutz in einem Erdloch am Ufer des schäumenden
Flusses.
Die Namen nd die Handlung der
Geschichte sowie einige Orte sind frei erfunden. Sollten Ähnlichkeiten
zu verstorbenen oder lebenden Personen bestehen, so sind diese zufälliger
Natur und nicht beabsichtigt. Zwischenmenschliche Dramen folgen an allen
Orten und zu allen Zeiten einem ähnlichen Muster. Das liegt in der Natur
des Menschen begründet.