|
Gottesdienst zu später Stunde Im “Diako“ wohnt die Nächstenliebe Michael L. Hübner
Die kleine Anni ist zehn Jahre alt und huscht in ihrem Pyjama noch einmal ins Treppenhaus, um ihren beiden Schwestern auf der anderen Abteilung Gute Nacht zu sagen. Ihre Mutter lebt nicht mehr – es ist das Erste, was sie mir erzählt. Sie ist ein liebes, aufgewecktes Mädchen – aber der Verlust der Mutter macht ihr sichtbar schwer zu schaffen. Während ihre kleinen Mitbewohner noch einen Zeichentrickfilm verfolgen, schaukelt sich Anni in der Hängematte, geht dann, vor sich hin schnatternd, aber artig, ins Bad und putzt sich die Zähne. Dann zeigt sie mir ihr Zimmer und ihr bisschen Spielzeug in zwei Kisten. Stolz ist sie auf den Bus und das Polizeiauto. Ich sage ihr, heute brauche sie mal keine Leiter, um in ihr Hochbettchen zu kommen. Ob sie wüsste, wie eine Räuberleiter geht. Sie weiß es nicht. Ich lehne mich ans Bett, falte die Hände – linker Fuß in meine Hände, abgestoßen, über meine Schultern gerollt. Plumps – da liegt sie! Das fand sie großartig! Gleich noch mal! Während sie ihr Radio zum Einschlafen auf den Sender „Radio Teddy“ einstellt, fragt sie mich, ob sie mich jemals wiedersähe und ob ich ein „lieber Mensch“ sei. Ich sage ihr: „Ich versuche es zu sein, jeden Tag“ ... weiter komme ich nicht. Es schnürt mir den Hals ab. Warum kann das Mädchen jetzt nicht in ihrem Zhause von ihrer Mama und ihrem Papa ins Bett gebracht werden? Das hat sie doch nicht verdient. Das hat niemand verdient! Was mich tröstet, ist, dass sie ein Riesenglück im Unglück gehabt hat. Anni und ihre kleinen Freunde sind jetzt hier, in diesem Haus, bei Solveig und ihren Kollgen. Solveig braucht man nicht zu fragen, ob sie lieb ist. Sie ist es. Sie ist der Prototyp dessen, was man sich als kleines Kind unter einer Guten Fee vorstellt. Es scheint beinahe so, als sei sie die Mutter all dieser Kinder. Mehr Wärme und Zuwendung kann auch eine leibliche Mutter nicht geben. Während ich Anni noch einmal zur Guten Nacht die Hand gebe, nutzt sie die Gelegenheit und cremt meine Hände ein. Sie hatte sich etwas zuviel draufgetan: „Sind ein bisschen trocken“, erzählt sie mir mit allem gebotenen Ernst. Dann winkt sie mir hinterher und ich trete auf den Flur. Bitte, lieber Gott, lass niemanden mitkriegen, wie butterweich meine Knie sind! Ich kämpfe wie ein Berserker mit meinen Tränen. Solveig sagt, der kleine Thomas* möchte mich noch einmal sehen. Er spricht nicht, sitzt in seinem Rollstuhl, na ja, jetzt nicht mehr: Solveig hat ihn schon ins Bett gebracht.
Da lugt er unter seiner Bettdecke hervor und lächelt. In der Nacht muss er gedreht werden, alleine schafft er es nicht. Vierzehn Jahre ist er alt. Und keine Spur verbittert. Es muss diese unendlich positive Ausstrahlung des Pflegepersonals sein, welche die Kinder so freundlich und lebenszuge- wandt erscheinen lässt. Worüber habe ich es gewagt, mich in meinem Leben aufzuregen? Über triviales Zeug! Über Banalitäten! Dieser Junge kann nicht sprechen. Aber seine Botschaft ist deutlich: Das Leben, so hart es den Einzelnen mitunter anfässt, ist doch ein kostbares, unwiederbringliches und lebenswertes Gut! Eines hat mich diese abendliche Stunde auf dem höchsten Berg Teltows, dem Mons Misericordiae**, gelehrt: Wenn etwas den Namen „Gottesdienst“ verdient – dann das hier! * Namen von der Redaktion
geändert |
24.
Volumen |
©
B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009 23.05.2015 |