Tod eines Pädagogen
Das schlechte Gedächtnis der Menschen oder
nihil nisi bene
David Katz
Todesanzeigen in Gazetten haben immer etwas Betrübliches. Man schlägt
die Seite mit den Sterbeannoncen auf und weiß, den da gibt es nicht
mehr. Mitunter geht es dem Leser besonders nahe, denn diesen Namen kannte
er. Ein Kollege, ein Freund aus früheren Tagen, ein Mitschüler, ein
Lehrer – man hat sich möglicherweise jahrzehntelang nicht mehr gesehen
und nun ist die erste Nachricht, die man von diesem Menschen erhält,
zugleich auch die letzte. Betroffenheit. Plötzlich visualisieren sich
Gestalt und Gesicht des Verstorbenen. Wort- und Satzfetzen tauchen aus
dem Dunkel vergangener Tage auf, vielleicht auch die ein oder andere
lustige Situation. In der Konfrontation mit der unerbittlichen Unendlichkeit,
mit dem Absoluten, dem Unumkehrbaren verblassen zumeist die argen Erinnerungen,
die guten bleiben allzu oft bestehen. Und weil der Tote sich nun nicht
mehr wehren kann, prägten die Römer den Satz: De mortuis nihil nisi
bene. Das meint verdeutscht: Über die Toten rede nichts außer Gutes.
Das ist ein edler Zug, und es findet sich mit wenigen Ausnahmen kaum
ein Anlass, sich anders zu verhalten.
Des ungeachtet – vergessen darf man nicht! Vielleicht sollte man sich
eines Urteils entschlagen, denn bei den gewöhnlichen Menschen löscht
der Tod alle Schuld. Dennoch, dennoch...
Da verkündete jüngst ein Brandenburger Anzeigenblatt den Namen eines
Lehrers, der sich bei seinen Schülern großer Beliebtheit erfreute. Seine
Art war jugendlich, frisch und locker. Auf die Bedürfnisse seiner Schüler
war sie zugeschnitten, er erreichte sie, er konnte mit ihnen umgehen,
konnte Wissen vermitteln.
Es dauerte auch nicht lange, da tauchten in einem sozialen Netzwerk
des Internets die ersten Traueradressen auf. Kurze Erlebnisse und Anekdoten
wurden ausgetauscht und – alle Wetter – der Mann hatte eine exzellente
Presse!
Nur einer schrieb: Alte Stasisocke! Rumms, das saß! Eine einzige ehemalige
Schülerin nahm darauf Bezug und schrieb, man hätte sich diesen Kommentar
bei einem solchen Anlass sparen können. Sie hatte nicht Unrecht. Doch
was steckt dahinter? Welche Denkweise begegnet uns hier? Dieses Verhalten
ist eingeimpft. Am offenen Sarge ist es verpönt, von den Fehltritten
eines Menschen zu reden. Die Pietät verbietet es.
Doch wie bereitwillig wird dieses Tabu aufgegriffen? Auch bei uns machte
sich Verunsicherung breit. Einer unserer Redakteure kannte diesen Lehrer
auch. Auf ihn angesprochen, sagte er: „Ich erinnere mich gut. Es war
unter uns ein offenes Geheimnis, dass der Mann ultrarot und „überzeugt“
war. Dass er als Verbindungsmann des Ministeriums für Staatssicherheit
diente, lag nahe. War er in der Nähe, so wurden selbst die provokantesten
Schnauzen ruhiger.“ „Aber, lieber Hübner, wie kommt es dann, dass er
nach seinem Tode eine so überzeugende Resonanz erfährt?“ „Das ist eine
Frage, die des intensiven Nachdenkens lohnt“, lautete die leise Antwort.
„Sollten wir diese Frage schlüssig beantworten können, dann öffnet sich
uns ein riesiges Fenster in die Seelen der Menschen, in ihre Befindlichkeiten.“
„Sie meinen, <...bei Adolf war doch nicht alles schlecht...> oder
<...wir hatten auch ein schönes Leben in der DDR...>?“ „Ganz recht,“
replizierte Hübnern, „ganz recht! Das ist ein kurioses Ding mit den
Leuten. Erst rennen sie gegen die Mauer an und riskieren offenen Auges
an der Leipziger Runden Ecke über den Haufen geschossen zu werden und
dann, wenn sie merken, dass ihre Sorgen auf der anderen Seite der Mauer
nicht abnehmen, sondern nur die Gestalt wechseln, dann entwickeln sie
eine irrational anmutende Nostalgie. Sie kaufen sich die vorher so verpönten
Ostprodukte und meinen das vermeintliche Paradies der Geborgenheit und
sozialen Absicherung. Das bequeme Leben wiegt in der Retrospektive schwerer
als die Angst vor der Denunzierung durch den Nachbarn, die Bespitzelung
durch den Freund und die sehnsuchtsvollen Blicke auf die Postkarte vom
Bahamas-Urlaub der Schwester aus dem Westen. Nicht mehr präsent sind
die Tage des Anstehens vor einer Telefonzelle und das wütende Klopfen
gegen deren Scheiben, weil der da drinnen mit dem Quatschen nicht fertig
wurde, während man selbst im Regen stand. Vergessen die Zeiten, da man
den auf dem Sterbebette liegenden Opa bekniete, sich noch mal auf einen
Wartburg anzumelden, der da in fünfzehn Jahren fällig wurde, während
man sich vom blasierten KFZ-Meister demütigen ließ bis zum Abwinken
und ihm obendrein noch heimlich zähneknirschend den letzten West-Fünfer
in die saubere Kitteltasche schob. Das gute Westgeld, das die ungeliebte
Schwester bei ihrem letzten Besuch generös auf der Flurkommode liegenlassen
hatte. „Meister, einen Auspuff wer'n so doch noch haben...?“ Dieses
ganze devote Flehen, diese Unterwürfigkeit, dieses permanente Betteln,
das Mit-sich-Herumschleppen von den kleinen, dehnbaren Einkaufsnetzen,
falls man „mal gerade dazukommt“. Vorbei, vergessen, aus dem Gedächtnis
getilgt. Wie man auf die Fotos starrte, welche die Schwester und der
aufgeblasene Schwager aus dem Handschuhfach ihres Opel-Kapitän kramten
und auf denen das schicke neue Eigenheim innen wie außen zu bestaunen
war. Und dann die abschätzigen Worte über den desolaten Zustand der
jämmerlichen Mietskaserne, in der man selbst hauste. „Na, wenigstens
Innenklo habt ihr...“ Ja, Helmut kannte jemanden bei der KWV, die anderen
Bruchbuden waren ja noch schlimmer...“ „Aber mal ehrlich, könnt ihr
da nicht mal selbst was machen? In der Fassade noch die Einschüsse von
'45. Also wirklich!“ Vergessen, vergessen. Es war doch so schön! Der
Zusammenhalt in der Hausgemeinschaft, der gemeinsame Ausbau des Hobbykellers,
die Feste... ...der Anranzer auf der Feier von der ollen Kalubeit aus'm
Parterre, die das Hausbuch führte. Deren Oller war bei der Stasi, wusste
doch jeder: „Ihre Schwester war doch verwich'ne Woche uff Besuch. Vajessen
Se man nich, se noch einßutragen. Wenn der ABV wieder auf Kontrolle
kommt, will ich kee'n Ärger ham, vastehn'se.“ Man verstand und trug
den Besuch pflichtgemäß ein und ließ sich gängeln und demütigen und
bevormunden und jeden Uniformträger unter die eigene Klobrille schauen,
ob man auch vorschriftsmäßig geputzt habe. Vergessen, vergessen. Es
war doch alles so schön!
Was ist mit den Menschen? Ist dieses Geschlecht, ist diese Gattung einfach
nur blöde? „Also man kann ja über den ollen Kalubeit sagen, was man
will, aber hilfsbereit war der. Hat mal seine Beziehungen spielen lassen
für mich, und schon hatte ich 'ne Auspuffanlage für meinen Wartburg.
War zwar eene vom Barkas, aber passte ooch.“ Dass der Hippi aus'm Dritten
von der Polizei die langen Haare abgeschoren bekam und später, als er
die Repressionen nicht mehr aushielt, von „Olle Kalubeit“ nach Bautzen
II verfrachtet wurde, weil er im Hausflur besoffen rumgebrüllt hatte,
er wollen nach'm Westen, vergessen, vergessen.
Olle Kalubeit soll mal, bevor er zu „Horch und Guck“ ging, Lehrer gewesen
sein. Sogar unter Adolfen schon. So einer mit 'nem runden Parteizeichen
auf dem Revers. Na ja, letzten Endes – 'n feiner Lehrer war der. Alles
was recht ist. Schade, dass der dann wegging. Nu isser tot. De Mortuis
nihil nisi bene.
Und wieder kommt uns Vater Liebermann in den Sinn, der angesichts der
widerwärtigen Straßenbeleuchtung der Berliner Alle Unter den Linden
am 30. Januar 1933 lakonisch formulierte, er könne gar nicht so viel
fressen, wie er kotzen wollte. Verständlich, sehr, sehr verständlich.