Auf Messers Schneide
Engländer bocken und blocken in Brüssel
B. St. Fjøllfross
Europa ist in Not. Land unter für den Euro. Müssen wir alles tun, um
den schwer angeschlagenen Kontinentalverbund zu retten?
Alles! Alles! Alles! Es gibt nichts Wichtigeres!
Jetzt, wo wir Europäer bereits in den gähnenden Abgrund schauen, müssen
wir den Blick nach vorne richten. Über den Abgrund hinweg. Wir brauchen
Visionen, die uns ein Leitseil sind. Nach vorne sehen heißt – global
denken, selbst wenn dieses globale Denken noch beinahe vollständig aus
Utopien besteht.
Der europäische Gedanke hätte vor einhundert Jahren in den einzelnen
Nationen ebenso utopisch angemutet. Doch auch damals hatten wir schon
Visionäre. Europäische Visionäre. Bismarck war so einer, wenn auch sein
notwendiger Weg der kleinen Schritte bereits den Keim der paneuropäischen
Großkatastrophe des ersten Weltkrieges in sich barg. Was in Versailles
gesät wurde, raste in einem Orkan der Vernichtung über die Schützengräben
von Verdun hinweg. Es mag zynisch anmuten – aber in diesem Kriege war
das Abendland erstmals wirklich vereint. Der Zweite Krieg dann brachte
zumindest bei den erwachsen gewordenen Völkern die Einsicht, dass nur
eine politisch-wirtschaftliche Einheit eine Alternative des Lebens zu
der Einheit des Sterbens in den Stacheldrahtverhauen der Frontlinien
bieten kann.
Bislang hatten wir bei unseren westfränkischen Vettern den Eindruck,
die europäische Adoleszenz sei beinahe spurlos an ihnen vorübergegangen.
Zumindest was die Einstellung des gemeinen französischen Volkes zu denen
Boches, also uns Deutschen betrifft. Doch die Führungsriege im Élyséepalast
hat die Zeichen der Zeit nicht nur begriffen, sondern ist darüber hinaus
fest entschlossen, die von General de Gaulle und François Mitterand
vorgegebene Linie strikt fortzuschreiben.
Wer sich jedoch zu unserem unendlichen Leidwesen wie ein albernes, dummes
Gör verhält, ist 10 Downing Street. Es schmerzt umso mehr, als wir den
Engländern mental so nahe stehen, wie kaum einem anderen Volke Europas
– auch wenn diese Zuneigung keine Gegenliebe bedingt – wie uns nur allzu
bewusst ist. Die imperialen Großmachtträume scheinen auf der Insel noch
immer nicht ausgeträumt zu sein und der Sieg auf den Falkland-Inseln
perpetuiert in den John Bulls den Irrglauben, sie könnten auch ohne
Europa autark ihren Weg machen. Was soll ihnen schon passieren, solange
ihnen ihre ehemalige Kolonie in Washington noch die Stange hält? Doch
Vorsicht, liebe Insulaner! Uncle Sam hat abgewirtschaftet und ist bereits
im freien Fall begriffen. Das Schicksal Russlands erfüllt sich nun zwei
Jahrzehnte später an dessen einstigem Kontrahenten. Sicher – ehe der
Dicke dünn ward, war der Dünne verhungert. Diese Rechnung Reagans ging
seinerzeit auf – das Reich der roten Zaren kollabierte. Es erholte sich
aber auf dem Wege eines Turbokapitalismus zusehends, während die dünn
gewordenen U.S.A. jetzt erst dabei sind, ihre Rüstungszeche aus dem
gewonnenen Kalten Kriege zu bezahlen. Und ist keiner da, der für die
Reparationen aufkommt. Der Krieg ist für die Amerikaner zu einem elenden
Verlustgeschäft geworden, in dem sie sich mit den Erfolgen eines Pyrrhus
zu Tode siegten. Die Russen steigen wieder, während der Triumphator
abwärts an ihnen vorbei rauscht.
Die Geschichte wiederholt sich: Deutschland fuhr auf Kosten seiner alliierten
Sieger nach dem Zweiten Weltkrieg einen ähnlichen Wirtschaftssieg ein,
nutzte diesen aber in Folge nicht dazu, sich selbst wieder auf der globalen
Bühne zu exponieren, sondern mit seiner wiedergewonnenen Stärke die
Einheit Europas voranzutreiben. Und das nicht unter seiner ausschließlichen
Rigide, wie viele Skeptiker noch immer befürchten.
Das illustriert, warum wir es für schlüssig halten, dass sich London
mit seiner von David Cameron verfochtenen Politik so tief ins eigene
Fleisch geschnitten hat. Der Finanzplatz London wird es auf Dauer nicht
reißen, wenn das Land, das sich nunmehr selbst in die Isolation begeben
hat, maximal noch die Markt-Attraktivität der Bahamas wird vorweisen
können. Außer die Glocke der Wallstreet kennt der Markt nur wenige Traditionen
und auch diese nur, wenn sie ihn nichts kosten. Ein von der europäischen
Wirtschaft abgekoppeltes London aber wäre ruinös. Dabei haben die Briten
nicht viel mehr im Ärmel. Die britische Industrie ist vernachlässigbar.
Zehn Prozent des Brutto-Inlandsproduktes werden von der Finanzwirtschaft
bestritten und hantiert seit langem mit Monopoy-Dollars, einem globalen
Jetstream von virtuellen Billionen, die längst an keine Wertschöpfung
mehr gebunden sind. Das ist eine einzige Finanzblase und wenn die platzt,
dann wird der Finanzplatz London so sauber hinweggefegt wie seinerzeit
die altehrwürdige Barings Bank, welcher Nick Leeson 1995 das Genick
brach.
Ist es jedoch recht, die Hellenen zu halten, deren Regierung sich einst
in die Europäische Union geschwindelt hatte, während man eine solch
mächtige Stütze wie Groß Britannien vor die Tür setzt? Ja, das ist es.
Schert Griechenland aus, dann ist die EU in Gefahr, denn dort würde
uns jemand verloren gehen, der die Gemeinschaft wirklich will! Geht
England – soll es! Persönlich tut es uns sehr leid, denn wir betrachteten
Britannien immer als integralen und unverzichtbaren Bestandteil des
Kontinents. Wenn die Englischen das aber anders sehen, dann ist Hopfen
und Malz verloren. Wir können sie nicht in unsere Reihen zwingen, noch
entbehrt die europäische Idee irgendetwas, wenn sie jemanden von dannen
ziehen lässt, der ihr nicht mit Leib und Seele verfallen ist. Sicher,
uns wird der englische Wirtschaftsraum fehlen, so sehr er auch momentan
an Schwindsucht leidet. Andererseits wird es uns ohne den „liberalen“
Finanzmarkt London leichter fallen, die Hasardeure im internationalen
Börsenpoker zumindest auf europäischer Ebene an die Leine zu legen.
Sollen sich doch die Briten von den Heuschrecken fressen lassen, die
sie zu Lasten der Gemeinschaft so hätschelten und mästeten! Was schert
es uns? Ist man auf der Insel reifer geworden, kann man ja zu Straßburg
wieder anklopfen.
Woran man europäische Reife erkennt? An der unbedingten Bejahung einer
starken und handlungsmächtigen europäischen Zentralregierung. An der
Bejahung einer Fiskalunion, einer einheitlichen Rechtsprechung und –
einer einheitlichen Bildungspolitik. Europäische Einigung ist dann erreicht,
wenn alle Kinder in den Schulen Europas dasselbe lernen – unabhängig
davon, was ihnen zuhause von ihren Eltern an tradierten Ressentiments
gegen irgendwelche Nachbarn und ominösen Erbfeinde eingeblasen wird.
Wenn sie vom Nordkap bis nach Palermo über Auschwitz genauso gut Bescheid
wissen, wie über die französische Kollaboration auch außerhalb Vichys,
über die englischen und belgischen Kolonialverbrechen, das Wüten der
Livländer und Polen gegen ihre jüdische Bevölkerung und das mörderische
Hausen der Italiener in Äthiopien. Gut, das mag noch zwei, drei, vier
Generationen in Anspruch nehmen – daran arbeiten, das Fundament dafür
legen, müssen wir heute schon! Mit oder ohne England!
Es ist machbar! Wir Deutschen, jahrhundertelang gepeinigt von Kleinstaaterei
und der unmenschlichen Souveränität von Duodezfürsten, haben diesen
anachronistischen Irrwitz überwunden. Wir haben nachgerade eine Verpflichtung,
unseren Nachbarn auf diesem Wege voranzuschreiten und zeigen, dass es
für alle einen Gewinn bedeutet, wenn man sich zu einem Verzicht auf
national-hoheitliche Rechte zugunsten der Stärkung einer zentralen Regierung
in Brüssel verständigt. Es ist ein Gewinn nicht nur für den überfallenen
Gemüsehändler in Berlin-Kreuzberg, wenn der zufällig im Urlaub vorbeischlendernde
Flic dem Gauner Handschellen anlegen und ihn bei der nächsten Polizeiwache
abliefern kann, weil er in der deutschen Hauptstadt ebenso im Dienst
und befugt ist, wie in Paris.
Wir standen im neunzehnten Jahrhundert vor dem politischen und ökonomischen
Zwang, die Kleinstaaterei und das mit ihm verbundene Denken zu überwinden
und haben es geschafft. Nun, über ein Jahrhundert später, hat sich das
Problem mit derselben Wichtung eine Ebene auf der europäischen Bühne
nach oben verlagert. Die Prioritäten und die Notwendigkeiten sind indes
absolut dieselben geblieben.
Wir dürfen Europa nicht verlieren. Wir müssen es weiter entwickeln,
es stärken, es vereinheitlichen; sogar mit dem utopischen Ausblick darauf,
in hundert Jahren vielleicht die europäische Souveränität an eine globale
UN-Administration abzutreten. Aber ein Zurück kann und darf es nicht
geben! Um gar keinen Preis! Lieber hacken wir uns die rechte Hand ab
– selbst dann, wenn diese „England“ heißt. Denn die Alternative würde
uns nicht nur die rechte Hand, sondern das ganze Leben kosten... in
den Gräben vor Verdun!