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Ein Diakon in der Bütt
Werner Kießig und die DDR

von Michael L. Hübner
Eine Art Wende, eine innere Abkehr vom Sozialismus hatte sich bei dem damals 16jährigen Werner Kießig schon im Jahre 1953 vollzogen, dem Jahr, als Stalin starb und der Volksaufstand des 17. Juni losbrach. Der junge Werner durfte Volkspolizisten auf Streife begleiten, welche die anstehenden Wahlen gegen Anschläge des Klassenfeindes zu schützen hatten. Bei einer dieser nächtlichen Patrouillen erwischten sie einen alten Mann, der sich gegen eine Häuserwand erleichterte. Unter Tritten und Schlägen wurde der Alte in den Polizei-EMW gedroschen. Das sollte die neue Zeit sein? So also sprangen die Weltverbesserer mit den Menschen um? An diesen Bildern war nichts Neues. Das kannte man schon. War gar nicht so lange her. Kießig war bedient. Er, der fromme Katholik, hatte dafür kein Verständnis. Und die neuen Machthaber hatten keines für ihn und seine Glaubensgenossen. Als der in Brandenburg an der Havel geborene und bei der Energieversorgung ausgebildete Betriebselektriker im RAW Kirchmöser 1958 eine Schotterbettreinigungsmaschine reparierte und dabei versehentlich eine Zange in die Antriebsketten fiel, wollte man ihm gar Sabotage unterstellen. Da war er wirklich in Gefahr. Gefahr aber sollte für den Hobby-Dichter ein Dauerzustand werden, als er ab 1970 beim Brandenburger Karneval in der Bütt stand und mit seinen berüchtigten Büttenreden von der unverbrieften Narrenfreiheit bis an jegliche Schmerzgrenze Gebrauch machte. Selbst um absolute Reizthemen wie der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan machte er keinen Bogen. Es hätte nicht viel gefehlt und die Genossen hätten sich bekreuzigt und manch einer sah es als ein Wunder an, dass ihm der Werner Kießig am nächsten Tag noch immer ohne Handschellen auf der Straße begegnete.
Der Staat bedankte sich anderweitig. Die sechsköpfige Familie Kießig behauste mit ihren vier Söhnen eine anderthalb-Zimmer-Wohnung im dritten Stock – Klo im Parterre.
Kießig aber blieb sich und seinem Glauben treu, warf den Elektrikerberuf hin und wurde Dekanatsfürsorger und ab 1981 Diakon der katholischen Kirche. Erst diente er unter dem alten Pfarrer Semrau in der Dreifaltigkeits-Gemeinde. Später, 1995, schickte ihn sein Bischof für acht Jahre auf die Insel Rügen, dann, als Rentner schon, noch mal fünf Jahre ins Rhinluch, nach Fehrbellin. Das aber war schon nach dem Untergang der DDR, den Werner Kießig als folgerichtig und unvermeidbar voraussah.
Aktiv politisch mitgestaltet hat er diese Wende nicht. Nein, das war ihm nichts. Zugesehen hat er sehr interessiert. Für ihn, den Christen, war es frappant, wie sich scheinbare Zufälligkeiten und Übereinstimmungen ergaben: Siebzig Jahre Sowjetunion bis zu ihrem Fall – siebzig Jahre babylonische Gefangenschaft; vierzig Jahre DDR – vierzig Jahre des Umherirrens der Kinder Israels nach ihrem Auszug aus Ägypten in der Wüste; sieben Montagsdemonstrationen in Leipzig, bis das System brach – siebenmal umrundeten Josuas Truppen die starken Mauern Jerichows, ohne sie zu stürmen – dann brachen die Verteidigungsanlagen einfach in sich zusammen. Das stimmt ihn, den ehrenamtlichen Mitarbeiter des christlichen Radiosenders Horeb, nachdenklich. Ihm ist, als spräche sein Gott aus diesen Ereignissen. Es war wie mit diesem alten Nietzsche-Witz: Die DDR hatte Gott für tot erklärt – und jetzt war sie es selbst. Ganz sang- und klanglos. Dass die Mauer, die nach Erich Honeckers Aussage noch einhundert Jahre stehen sollte und deren Sperranlagen kurioserweise nicht nach außen, sondern nach innen wiesen, nicht den Klassenfeind am Eindringen, sondern den eigenen Bürger am Abhauen hindern sollten, nach einem dussligen Versprecher Günter Schabowskis einfach so umkippte, hatte er erst gar nicht realisiert. Tränen in den Augen? Nein. Er sagte nur: „Dass das so einfach geht...?!“ Am Grenzübergang Marienborn half ihm ein Grenzer, den defekten Wartburg von der Fahrbahn zu rollen und sah sich nach einer Pannenhilfe um. Derselbe Grenzer, der ihm gestern noch die Maschinenpistole unter die Nase gehalten hätte, half ihm jetzt. Ein Mensch mit zwei Gesichtern? Nein, sagt Kießig, das ist die Angst! Die verbiegt die Menschen und lässt sie so sein, wie sie eigentlich gar nicht sein wollen. Ansonsten glich das Jahr 1989, wie der alte Pfarrer Semrau sagte, dem Jahre 1949: Keiner hatte Schuld und überhaupt waren alle schon immer dagegen gewesen. Das war für Kießig enttäuschend, wie auch der Umstand, dass sich bereits an den Runden Tischen das erste Machtgehabe wieder zu profilieren begann. „Gott verhüte, dass die jetzt sagen sollen, wo es lang geht...“ wandte sich Kießig an seine oberste Instanz. Gott hatte nur teilweise ein Einsehen.
Die Wende brachte dann einem anderen Werner Kießig vom Verband bildender Künstler aus Berlin Einsicht in dessen Stasiakte. Da stand etwas drin von einem Christoph Kießig, der am Brandenburger Hauptbahnhof von Transportpolizisten aufgegriffen worden sei, weil er einen dieser „Schwerter zu Pflugscharen“- Aufnäher trug. Der Berliner Kießig kannte keinen Christoph seines Namens. Wie auch! Christoph war der Sohn des Brandenburger Karnevalisten mit der spitzen Zunge. Die Stasi hatte versehentlich Aktenmaterial vertauscht. Kann ja mal passieren, bei so dicken Akten in Brandenburg und Berlin. Christoph, der mit seinen Brüdern Clemens und Claudius übrigens bei der legendären Brandenburger Band „Patchwork“ musiziert, hatte den feinen Humor seines Vaters geerbt: Auf seinem von der Trapo reklamierten Aufnäher stand fortan: Schwertfische zu Flugenten! Es war, wie der Vater in seiner Bütt 1972 im Großen Roland auf dem Molkenmarkt verkündete: Ick bin nur'n Clown, ick kann nischt dafür...

14. Volumen
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05.05.2009