Mehr als 'lebenslänglich'
Heinz Seehawer denkt an die Wendezeit
von Michael L. Hübner
„Meine Frau wurde ein paar Monate vor dem Mauerbau geboren, meine
jüngste Tochter ein paar Monate vor dem Fall der Mauer –
das hat schon was, ... 28 Jahre lang eingesperrt, das ist mehr als 'lebenslänglich'“.
Der das sagt ist ein Sohn der Altstadt, in dieser 1942 geboren und aufgewachsen.
Bei Paul Bergschmidt hat Heinz Seehawer Klempner und Installateur gelernt,
mit 14 Jahren schon. Berufe hatte der Hobbyzauberer schon viele ausgeübt.
Gasuhrenklempner und Hilfspfleger war er, hatte am Berliner Paulinum
Theologie studiert und war Pfarrer geworden. Neun Jahre arbeitete er
als Pastor in der Lausitz-Gemeinde Klein Döbbern bei Spremberg.
Ein Rüstzeitheim, eine Art Jugendherberge, hatte er dort aufgebaut
und damit das rege Interesse des Ministeriums für Staatssicherheit
auf sich gezogen. Dieses Interesse blieb ihm dann auch erhalten. Es
half nichts, dass er dieses nun seit 40 Jahren bestehende Haus nach
dem amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King benannte,
den er, Seehawer in Ostberlin noch selbst erlebt hatte. King, den ein
paar engstirnige Grenzer nicht durch die Mauer lassen wollten, weil
der weltberühmte Mann keinen Ausweis bei sich hatte. Das war schon
von kabarettistischer Qualität. Ob solche Erlebnisse den steilen
Aufstieg des Heinz Seehawer im KCH begünstigten? 30 Jahre lang
war er Präsident dieses Brandenburger Karnevalsklubs, in dem er
vom Einlasser über die Positionen des Keller- und Schatzmeisters
aufgestiegen war. Genau dieser Präsidentensessel war es dann auch,
der ihn, den Pflichtbewussten, hinderte, gleich nach dem Fall der Mauer
am 9.11. nach Westberlin zu fahren. Am 11.11. war Karnevalssitzung.
Das hatte Vorrang! Zu diesem Zeitpunkt leitete Seehawer bereits seit
vielen Jahren das Haus am See in Mötzow, ein Gasthaus des Christlichen
Vereins Junger Männer (CVJM). Er, der seine gastronomische Ausbildung
bei der weißen Flotte, erst auf dem „Aktivisten“ und
dann auf der „Brandenburg“ absolviert hatte, Gaststättenfacharbeiter
wurde und weiter lernte, bis er über alle Prüfungen und Qualifikationen
verfügte, um „sozialistische Gaststätten“ leiten
zu können, nahm am Abend des Mauerfalls das historische Ereignis
eher zufällig und beiläufig wahr. Seehawer arbeitete in Mötzow,
während der SED-Magier Schabowski den Mauerfall wie ein Karnickel
aus dem Zylinder holte. Ausgerechnet diesen Live-Trick musste Zauberer
Heinz Seehawer verpassen! Ein Freund hatte ein paar Wochen vorher aus
Ungarn ein Stück Stacheldraht des Eisernen Vorhangs mitgebracht,
berichtete von „drüben“, wohin er seinen Fuß
neugierig gesetzt hatte, dann aber wiedergekommen war. Aber jetzt, jetzt
konnte man selbst in den Westen fahren, wann und wie man wollte. Es
war unfassbar. Seehawer erinnert sich an die Altköchin, die ihn
fragte: „Heinz, kommt jetzt die Einheit Deutschlands?“ Er
glaubte es damals nicht, aber die prophetische Frage blieb ihm bis heute
im Gedächtnis. Zunächst aber wehte ein frischer Wind durchs
Land. Am 6.12.89 berichtete das Fernsehen vom Sturm auf eine Stasi-Zentrale.
In der Brandenburger Kreisdienststelle Neuendorfer Straße begann
man eilig Aktenmaterial beiseite zu schaffen. Seehawer und seine Frau
steckten sich Kerzen für eine Mahnwache in die Tasche und liefen
von ihrer Wohnung in der Harlunger Straße hinüber zum Puschkinplatz.
Die kleine Tochter schlief währenddessen zu Hause in ihrem Bett.
Als Seehawers ankamen, waren sie allein. Keiner sonst hatte sich eingefunden
die Mahnwache mit ihnen zu teilen. Sollten sie es riskieren, die Kerzen
herauszuholen? Was, wenn man sie verhaften würde? Was, wenn das
Kind aufwachte und die Eltern wären nicht da? Die Kerzen blieben
vorerst in den Taschen. Die Verhältnisse waren äußerst
instabil und eine wohlbegründete Angst noch immer präsent.
Dennoch, Seehawer wollte sich einbringen. Mit einem Tag Verspätung
erfuhr er von der Gründung der Brandenburger SPD. Das war seine
Partei, seine Richtung. Noch immer ist er tief bewegt, wenn er an Willy
Brandt denkt, wie er ihn erlebt hat, als der legendäre Chef der
deutschen Sozialdemokratie in der Wendezeit zu den Potsdamern gesprochen
hatte und er, Heinz Seehawer, war dabei gewesen. Willy Brandt, Helmut
Schmidt, Herbert Wehner, große Namen, die für eine gerechtere
Welt standen. Als ihn dann die Genossen am Vortage des ersten Unterbezirks-Parteitages
um den 10.2.90 aufforderten, einen Ortsverband Altstadt zu gründen,
nahm er sich einen Zettel mit den Namen potentieller Mitglieder, klapperte
die Türen ab und konnte dann in der Magdeburger Straße den
Ortsverband Altstadt ins Leben rufen. Seehawer wurde erster OV-Vorsitzende.
Die für die SPD günstige Kommunalwahl am 8.5.90 brachte ihn
in die SVV. Der frischgebackene Stadtverordnete Seehawer leitete fortan
den Kulturausschuss. Nebenbei der Beruf, nebenbei die Arbeit für
den KCH, nebenbei das Hobby, die Zauberei, mit der er schon als Pfarrer
die Kinder seiner Gemeinde verzückt hatte. Ach ja, das war übrigens
die Zauberei gewesen, die ihn zum Karneval gebracht hatte. Er sollte
mal für die Narren eine Vorstellung geben – und blieb gleich
bei ihnen. Klar, dass er bei seinem ersten Besuch in Westberlin einen
Zauberladen aufsuchte. Der Kaufmann entschuldigte sich vielmals. An
diesem Tage hatten ihn schon 60 Zauberer aus der DDR beehrt. Trotzdem
waren Seehawers glücklich. Seine Frau wollte Bürgermeister
Momper gar um den Hals fallen, wenn sie ihn zu Gesicht bekäme.
Es lag eine Magie auf diesen Tagen, wie ihn sich nicht einmal der zaubernde
Pfarrer, Gastronom und Karnevalspräsident Seehawer hatte träumen
lassen.