Gottesmann im Herzen der 
          Stadt
           Michael Kiertscher ist der Pfarrer an St. 
          Katharinen
        
         Michael L. Hübner
          „Man kann immer nur so viel geben, wie man hat. Mehr nicht. Was 
          drüber ist, das ist geklaut“, sagt Michael Kiertscher leise 
          lächelnd. Der 57jährige Pfarrer von St. Katharinen, der um 
          so vieles jünger aussieht, gibt alles. Man sieht es ihm kaum an 
          – dieses aberwitzige Arbeitspensum, welches der Gottesmann tagtäglich 
          schultert. Denn er ist mit der Seele dabei. Es macht ihm Freude, Priester 
          zu sein an einer der schönsten und größten Kirchen der 
          Mark, aber mehr noch ist er ein Priester seiner Gemeinde. Seelsorger, 
          Manager, Pädagoge, Psychologe – und doch geht alles in einer 
          beschaulichen Ruhe vonstatten. „Wissen sie was, kommen Sie doch 
          einfach mal mit und begleiten Sie mich!“ Spricht’s, greift 
          nach seiner Gitarre und geht die Treppe hinunter zum Kindergarten im 
          Erdgeschoss des Gemeindehauses. Die Kinder scharen sich um ihn. Er singt 
          mit ihnen. Plötzlich hat er ein Bilderbuch in der Hand. Die Kinder 
          lauschen gespannt, als ihnen der Pfarrer die Geschichte vom Zöllner 
          Zachäus aus Jerichow erzählt, der auf einen Baum kletterte 
          um Jesus bei seinem Einzug in die uralte Stadt besser sehen zu können. 
          Der Pfarrer selbst wird zu dem Baum – ein kleiner Junge erklimmt 
          seine Schultern. Die Kinder verstehen – das ist anschaulich. Und 
          der Pfarrer erzählt ihnen von dem reichen Zachäus, der von 
          Jesus besucht wurde und sich danach in einen besseren Menschen wandelte. 
          Noch ein Lied zum Abschluss, dann geht’s wieder weiter. Eine Stunde 
          später muss er die traurigste Pflicht eines Pfarrers wahrnehmen: 
          ein Menschen ist zu seiner letzten Ruhestätte zu geleiten. An einem 
          Vormittag treffen sich im Wirken dieses Mannes des Lebens Ein- und Ausgang. 
          Beinahe symbolisch. Allem, was dazwischen liegt, gilt seine Aufmerksamkeit, 
          seine Sorge, seine Zuwendung. Es sind nicht nur die Gottesdienste, die 
          Gemeindearbeit, die Projektarbeit für Aktivitäten, die weit, 
          weit über seinen Sprengel hinausreichen – wie „Brot 
          für die Welt“ zum Beispiel. Der Riesenkörper der St. 
          Katharinenkirche ist eine ständige Baustelle, das Gemeindehaus 
          bedarf permanenter Wartung – auch wenn es dank der emsigen, zehnjährigen 
          Tätigkeit des Fördervereins nun wieder in neuem Glanze erstrahlt 
          und sogar einen eigenen Aufzug besitzt. Die Leute fragen an, wann denn 
          der Turm wieder zu besteigen wäre. Auch dafür hat sich ein 
          Förderverein konstituiert – gegenwärtig aber ist man 
          schon froh und glücklich, interessierten Besuchern einen der phänomenalsten 
          spätmittelalterlichen Dachstühle zeigen zu können – 
          den nämlich seiner Kirche. Auch das war eine – mit Verlaub 
          gesagt – Heidenarbeit! Also ist der Pfarrer gleichzeitig Organisator, 
          erster Mitstreiter seiner rührigen Gemeindemitglieder, ohne die 
          das alles nicht zu meistern wäre. Zu Hause ist dann keineswegs 
          Feierabend. Mit seiner Frau, einer gelernten Krankenschwester, hat er 
          fünf Kinder großgezogen, ist stolz auf sie alle, liebt sie 
          und gibt und gibt und gibt. Eine Tochter hat es hart getroffen. Sie 
          wird wohl nie ohne fremde Hilfe und Unterstützung leben können. 
          Doch sie hat trotz alledem großes Glück, denn sie lebt in 
          einer Familie, in der die Liebe mit am gemeinsamen Tische sitzt. Für 
          sie alle ist er da und keine Spur von Verhärmtheit ist dem gütigen 
          und fröhlichen Michael Kiertscher ins Gesicht geschrieben. Sein 
          Schicksal ist ihm von seinem Gotte zugewiesen – und so nimmt er 
          es entgegen: Ein Geschenk.
          Dabei war es dem jungen Michael Kiertscher nicht an seiner Wittstocker 
          Wiege gesungen worden, dass er einst den Beruf seines Vaters ergreifen 
          würde. Die Fünfziger und Sechziger – das war eine Zeit, 
          als die Kommunisten mit dem religiösen Unfug der letzten Jahrhunderte 
          aufräumen wollten um jeden Preis. Als von Arrangement und friedlichem 
          Nebeneinander noch nicht die Rede war. Als über die Institution 
          der Kirche als Jahrhunderte langer Teil und Helfer der Ausbeuterklasse 
          der fortschrittliche Stab gebrochen war. Nun gut, in der DDR ging man 
          noch relativ moderat mit den Christen um – Westdeutschland war 
          doch zu nahe und außerdem hatten sich schon die Nazis am tief 
          im Volke verwurzelten Christentum die Zähne ausgebissen. An neuen 
          Märtyrern bestand kein Bedarf – aber schwer konnte man es 
          ihnen schon machen. Michael Kiertscher sah, wie sein Vater zu kämpfen 
          hatte. Materiell vermögend konnte man als Kirchenmann in der DDR 
          auch nicht gerade werden. Der Begriff der „armen Kirchenmaus“ 
          stand eher für das Gegenteil. Also wollte der junge Absolvent der 
          Potsdamer EOS Nr. 4, dem späteren Helmholtz-Gymnasium, nach dem 
          Wehrdienst zunächst einen technischen Beruf auf dem Gebiete der 
          Mathematik und Informatik studieren. Dennoch – als Mot. Schütze, 
          also Infanterist, trug er stets und ständig eine kleine Bibel in 
          der Uniform mit sich herum. Irgendwann wuchs dann im Herzen der Wunsch 
          – ich werde Pfarrer. Die technische Arbeit konnten auch andere 
          verrichten. Aber Pfarrer werden – das liegt nicht so vielen. Also 
          begann er sein Theologiestudium am Berliner Paulinum. Während des 
          Studiums nahm er an einem christlichen Zirkel teil, der eine kleine 
          Teestube betrieb. Hier traf er auch den berühmt gewordenen Ostberliner 
          Wehrdienst-Totalverweigerer Nico Hübner. „Der hatte so was 
          Radikales, Fanatisches…“ Nein, das war nicht sein Weg. Auch 
          im leisen Wirken kann eine große Kraft liegen. 1980 nahm er eine 
          Dorfpfarrstelle im Oderbruch an und wurde 1984 nach St. Pauli in Brandenburg 
          versetzt. Die einst wunderschöne Klosteranlage bot sich seit dem 
          Ende des Krieges als traurige Ruine dar. Das berührte ihn sehr. 
          Alles sah so sehr nach Stagnation und Verfall aus. Alte Häuser 
          und Mauern fielen einfach um. Die Gemeinde aber war lebendig und ihr 
          widmete sich der neue Pfarrer fortan. 1986 beging er die 700-Jahrfeier 
          des Pauliklosters. Das war denkwürdig. 15 Jahre später feierte 
          die Katharinengemeinde das 600jährige Jubiläum der Einweihung 
          ihrer Kirche in der heutigen Gestalt. Da war er schon Katharinenpfarrer. 
          Und ist es bis heute: Pfarrer einer der stolzesten Kirchen der alten 
          Chur- und Hauptstadt. Das ist zwar schön, aber im Grunde genommen 
          zweitrangig. Denn der Pfarrer Michael Kiertscher tut seinen Dienst dort, 
          wo sein Gott ihn haben will, ein wahrer evangelischer Geistlicher eben.