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Organist aus Leidenschaft
Matthias Passauer und die Wende

Michael L. Hübner
Wäre der Krieg nicht gewesen, Matthias Passauer wäre auch ein Königsberger Boffke geworden, so wie seine beiden Brüder. Doch die Heimat seiner Eltern ging verloren und Matthias wurde der erste Brandenburger seiner Familie, als er im Mai 1947 im Pfarrhaus zu St. Gotthardt zur Welt kam. Die Hebamme musste noch über eine Leiter zur Mutter in die Stube einsteigen – so überfüllt war das Haus noch immer mit Flüchtlingen. Drängende Enge begegnete ihm viele Jahre später wieder. Das war zur Wendezeit. Jan Hoffmann wollte sein Neues Forum vorstellen, eine Plattform, auf der übergreifend die schwierige Situation der DDR diskutiert und nach Lösungen gesucht werden sollte. Dompfarrerin Radecke-Engst wollte mit einem Gemeinderaum aushelfen – mit einem solchen Massenanstrum aber hatte niemand gerechnet. Ohne Plakate, ohne Werbung – Mundpropaganda – die Leute kamen zu Hauf. Man disponierte um: Der Dom wurde für die Veranstaltung im Rahmen eines Fürbittgottesdienstes geöffnet. Um den Menschen eine Freude zu machen und den Gottesdienst zu begleiten, plante Domorganist Matthias Passauer, ein paar Stücke auf der Orgel zu spielen. Doch wie zu seinem Instrument gelangen? Die Treppe war bis auf den letzten Quadratzentimeter besetzt mit Menschen, die gekommen waren, um das Neue Forum kennenzulernen. Es gibt da einen alten Geheimgang durch den Turm, lächelt Passauer und freut sich. Durch die Gebläsekammer seiner Orgel, hinten herum, so kam er zu seiner Wagner-Orgel. Der Ansturm war sinnbildlich für die Wende: Menschen über Menschen, die etwas neues wollten, die sahen, dass es so nicht mehr weiter ging mit der DDR. Mauerumsturz, nein daran dachten die Wenigsten. Die wollten die DDR auch nicht zur Gänze abschaffen. Zu allererst wollten sie mal reden. Reden, nichts weiter. Nur reden. Die Gegenseite hielt aber vom Reden nicht viel. Dass seine Tochter in der Berliner Schönhauser Allee um Leben und Gesundheit lief, die Volkspolizei mit ihren „sozialistischen Wegweisern“, den Gummiknüppeln im Rücken – auch das war Wende für den Kirchenmusiker Matthias Passauer. Der hatte einst Pfarrer werden sollen, wie seine beiden Brüder. Papa wollte das und was ein ostpreußischer Dickkopf will, das hat zu geschehen! Aber Wolfgang Fischer, der den jungen Passauer gemeinsam mit Bischof Albrecht Schönherrs Sohn Dietrich an der kleinen Schuke-Orgel zu St. Petri ausbildete, wollte dieses Talent nicht dem Pastorenamt überlassen und konnte Mutter Passauer für sich gewinnen. Gegen seine Frau war dann auch der ostpreußische Pastor machtlos und Matthias durfte Kirchenmusik studieren. 1980 kam Passauer dann aus Zossen, wo er knapp zehn Jahre als Kantor gewirkt hatte, nach Brandenburg an den Dom. Fischer hatte gerufen, die Stelle war vakant und ihn, Passauer, wollte man haben. Das fiel schwer, man hatte sich eingelebt, die schöne große Wohnung in Zossen... aber dann – der Brandenburger Dom! Hier gab Fischer seit 1957 seine eintrittsfreien Sommermusiken, hier fand die nonkonforme DDR-Jugend mit ihrem Festival „Singe Deine Lieder“ ein Podium. Jedes letzte Wochenende im August spielten und sangen sie selbstgeschriebene Lieder zum Alltag in der DDR und ihren Träumen und Sehnsüchten. Draußen vor dem Kirchenportal stand die FDJ in Blauhemden und agitierte fleißig die einzig wahre Weltanschauung. Passauer aber traktierte seine geliebte Wagnerorgel, deren Klänge jeden Winkel im Dom erreichen. Der Dom wollte vor Besuchern überbersten. Ein amerikanischer Chor hatte sich angesagt. Gäste aus Amerika! Ganz Brandenburg war aus dem Häuschen.
Das Festival „Singe Deine Lieder“, einst Ausdrucksform einer politisch engagierten Jugend, schlief dann allerdings ein. Auch das eine Folge der Wende, wie Passauer bedauernd konstatiert. Und dass die jährliche Geburtenziffer seit Ende der DDR so dramatisch abfiel, wie seine als Hebamme arbeitende Frau spürt, das scheint auch irgendwie mit den neuen Zeiten zusammenzuhängen, in denen Kinder nicht mehr Mittelpunkt eines sinnerfüllten Lebens sind, sondern stattdessen zum Luxus werden, wie Passauer nachdenklich erzählt. Mit seiner Frau ist er übrigens seit 38 Jahren verheiratet, zwei Töchter und einen Sohn haben die beiden großgezogen. Passauer, der Weltbefahrene, den so viele Künstler aus aller Herren Länder bei sich spielen hören wollten, konnte nach der Wende seinen Kindern und seiner Frau endlich die Orte zeigen, an denen er vor dem Mauerfall auftreten durfte, weil die Familie als Garant für seine Heimkehr in der DDR bleiben musste. Auch das ein Stück Wende-Errungenschaft: Endlich nicht mehr Westgeld auftreiben zu müssen für einen Stempel im Künstler-Reisepass, endlich nicht mehr herhalten müssen für eine verlogen plakatierte „Reisefreiheit“ in der DDR, die mit solchen Künstlern wie Passauer, dem Kreuzchor oder den Puhdys ihre Weltoffenheit und Liberalität darzustellen suchte. Heute kann ihm die Familie lauschen, wenn er wieder einmal eine weit entfernte „Königin unter den Instrumenten“ bespielt, wie seinerzeit beim Einweihungskonzert der Wagner-Orgel am Nidaros-Dom der norwegischen Stadt Trondheim. Das gehört zu den unbestritten guten Seiten der Wende für den Kirchenmusikdirektor Matthias Passauer.

14. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
14.04.2009