Der Straßenbahner
Peter Kotecki in der Wendezeit
von Michael L. Hübner
Selbst als Peter Kotecki schon einen Abteilungsleiterposten bei der
Brandenburger Straßenbahn innehatte, sah man ihn oft in der Kanzel
einer Straßenbahn. Es herrschte – für heutige Verhältnisse
beinahe undenkbar – Personalknappheit. Um den Betrieb des öffentlichen
Transports aufrechtzuerhalten, durften sich auch Leitungskader nicht
scheuen, nach ihrer eigentlichen Schicht oder am Wochenende als Straßenbahnfahrer
für ihre Kunden dazusein. Die Brandenburger brauchten ihre Busse
und Straßenbahnen, denn auf Automobile wartete man viele Jahre
und auch ein Taxi zu ergattern, war ein absoluter Glücksfall. Als
sich im November 1989 aber die Mauer öffnete, stand der 1942 in
Brandenburg geborene Kotecki zusammen mit seinen noch im Betrieb verbliebenen
Kollegen vor einer nie da gewesenen Herausforderung: Viele, viele Fahrer
kamen einfach nicht mehr zum Dienst, sondern machten sich auf den Weg
in den Westen. In der Pass-und Meldestelle der Hohenstückener Charlotte-Grupa-Straße
aber standen die Leute zu Hunderten für die begehrten Stempel,
die zum Überschreiten der innerdeutschen Grenze berechtigten. Wer
dann den Stempel, aber keinen Trabant, Wartburg oder Lada hatte, der
musste dann wohl oder übel zum Bahnhof kommen. Und die Leute wollten
dorthin! Keine leichte Aufgabe für einen wenn auch gestandenen
Chef. Bei der Reichsbahn hatte Kotecki damals angefangen – es
bis zum „Mann mit der roten Mütze“ – zum Bahnhofsvorsteher
auf dem Hauptbahnhof gebracht. Bis 1968 war er der Herr über die
ankommenden und abfahrenden Züge gewesen. Aber Heirat und Schichtdienst
– das vertrug sich schlecht. Er hätte in die Politabteilung
der Reichsbahn wechseln müssen. Nein, da ging er lieber ins Getriebewerk,
wo ihn 1971 ein Hilferuf des Rates des Kreises, Abteilung Verkehr, erreichte.
So kam er ins Referat Wasserwirtschaft und wurde „Deichgraf“
im Kreis, begutachtete Deiche und Anlegestellen der Weißen Flotte.
Weil er doch aber erfahrener Reichsbahner war, wollten ihn 1973 die
Verkehrsbetriebe Brandenburg haben, für die Abteilung Straßenbahn,
wo er über 120 Angestellte verantwortlich war. Das war die Zeit,
als Chef Kotecki, der zwar nach Feierabend seine Straßenbahn des
Öfteren selber durch die Stadt kutschte, morgens aber, wenn er
sie brauchte, drei oder vier Züge passieren lassen musste, bis
endlich mal eine Bahn kam, die nicht hoffnungslos überfüllt
war. Geld für eine Modernisierung seines Betriebes war notorisch
alle. Wie in jedem sozialistischen Werk stand auch bei der Straßenbahn
Improvisation und Enthusiasmus hoch im Kurs. Kotecki, der nach einem
Studium 1978 Leiter der Sicherheitsinspektion geworden war, konnte ein
Lied davon pfeifen. 1983 wurde er dann auf einen entsprechenden Posten
nach Potsdam ins dort neu gegründete Verkehrskombinat gerufen.
Referent der Sicherheitsinspektion aller Straßenbahn- und Buslinien
in Potsdam und Brandenburg war er nun – und wo der Schuh mehr
und mehr zu drücken begann, blieb auch ihm nicht verborgen. Machen
konnte man nicht viel mehr, als ständig den Buckel hinzuhalten.
Im April 1989 bat er dann darum, nach Brandenburg zurückkommen
zu dürfen. Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Direktors wurde er,
also dessen persönlicher Referent, Zuarbeiter, Vorbereiter, Sprachrohr,
rechte Hand... Um diese Zeit, so berichtet Kotecki, herrschte auch schon
in den Fluren der Ministerien und den Direktoraten eine recht seltsame
Stimmung. Noch ahnte er zwar nicht, dass er als Betriebsgewerkschaftsleiter
(BGLer) für die Industriegewerkschaft Transport und Verkehr kurze
Zeit später „das Licht ausmachen“ würde. Noch
schrieb der parteilose Peter Kotecki einen offenen Brief an den Verkehrsminister,
in welchem er die katastrophalen Zustände in seinen Verkehrsbetrieben
Brandenburg anprangerte: „Ist der Nahverkehr in Brandenburg noch
zu retten?“, lautete die bohrende Frage. Das Ministerium entsandte
Fachkräfte, die sich die Situation vor Ort besahen: Das Dach war
leck, es gab keine Heizung, die sanitären Zustände waren katastrophal,
Maschinen entstammten teilweise noch der Epoche der Pferdebahn, potentielle
Exponate für das Straßenbahnmuseum, für das sich Kotecki
seit 1997 ehrenamtlich engagiert. Es war zum Verzweifeln. Oberbürgermeister
Klaus Mühe versprach zu helfen, wie er konnte. „Aber Herr
Kotecki“, sagte Mühe, „meine Uhr ist in dieser Stadt
abgelaufen. Ob die nächste Stadtregierung das umsetzen wird, was
wir hier beschließen, das steht in den Sternen.“ Kotecki
raufte sich die Haare – aber irgendwie musste es weitergehen.
Als dann die Mauer fiel, da richteten sie trotz aller Personalknappheit
noch eine zusätzliche Buslinie ein: Berlin-Spandau stand auf dem
Zielschild. Kotecki selbst kam erst Tage später das erste Mal nach
Westberlin. In Schönefeld hatte er mit seiner Familie die Reichsbahn
verlassen und dann schob sich eine schier endlose Karawane von Menschen
nach Rudow hinüber. Wie die Kollegen in Westberlin den Abtransport
dieser Massen in die Innenstadt organisierten, darüber staunt er
noch heute. Das klappte tadellos. Kurze Zeit später riefen ihn
Kollegen aus Bielefeld an, aus dem Westen...! Noch vor einem halben
Jahr wäre das undenkbar gewesen. Ihre alten ausrangierten Straßenbahnzüge,
Meterspur, wollten sie der Havelstadt schenken, die netten Brüder
aus dem Westen. Der Chef war ratlos. „Sollen wir...?“ Es
ging nicht: die angebotenen 6-Achser hätten auf keine Reparaturrampe
gepasst. Schade. Über eine Sache muss Kotecki jedoch heute noch
lächeln. Als Bürgermeister Piontek aus der Partnerstadt Kaiserslautern
um die Wendezeit nach Brandenburg an der Havel kam, da wurde nach alter
Manier Fassadenkosmetik betrieben – gerade so, als sei Erich Honecker
wieder einmal im Anmarsch. Während die Häuser des Puschkinplatzes
nach hinten raus so ihre Probleme hatten, leuchtete nach vorne der Putz:
Piontek'sche Dörfer sozusagen. Es sollte noch seine Zeit brauchen,
bis man endlich auch diese Altlast überwunden hatte.