...und plötzlich waren
wir in Westberlin
„Patchworker“ Raymund Menzel erinnert
sich
von Michael L. Hübner
„9. November 89? Ich habe gar nichts mitbekommen“, sagt
Raymund Menzel. „Mein Chef, der Musikinstrumentenbauer Artl aus
der Bäckerstraße, auch nicht.“ An diesem Morgen war
gerade ein Harmonium für die Kirche des direkt an der Mauer gelegenen
Dorfes Dallgow fertig. „Wir haben es ausgeliefert und während
uns der Pfarrer ein zweites, reparaturbedürftiges Instrument in
unseren Barkas lud, fragte er: 'Was, Sie arbeiten heute?' 'Ja, wir arbeiten
jeden Tag...' Was sollte die Frage? „Ja, aber alle sind drüben,
in Westberlin! Die Mauer ist offen!“ Sie sausten zum Grenzübergang.
Die Grenzsoldaten fragten mit angeschlagener Maschinenpistole: „Watt
habt ihr denn da hinten drin? Den toten Honecker in seinem Sarg?“
Meister Artl kamen die Tränen. Nein – nicht wegen dem „toten
Honecker“... Eine halbe Stunde später parkte der Barkas der
beiden Männer auf der Straße des 17. Juni mit einem alten
Harmonium im Laderaum und sie tanzten auf der Mauer am Brandenburger
Tor. „Nu sagen Se mal selbst: an dem Tag, 'n Harmonium nach Dallgow,
und wir – nüscht jewußt - gibt’s so was?“
Der im November 1961 geborene Raymund Menzel, Leiter des cafe contact
auf der Dominsel, lacht. Für den Zahnarztsohn, der ein viertel
Jahr nach dem Mauerbau am Gotthardtkirchplatz geboren wurde, begann
eine neue Zeit. Das letzte Mal als er im Westen war, hatte er nicht
so viel mitbekommen: Da war er noch im Bauch seiner Mutter. Das war
jedoch beileibe nicht das Einzige, was sich ändern sollte.
Ein wunderbares, ein katholisches Elternhaus, 9 Jahre herrliche Kindheit
direkt am Wiesenburger Stadtpark, der Vater weckte früh in ihm
die Liebe zur Musik. Die begleitete ihn sein ganzes Leben. Klavier sollte
er, Trompete wollte er lernen, Papa akzeptierte. Ganz nebenbei brachte
sich Menzel das Trommeln bei und so sitzt der studierte Sozialpädagoge
heute in seiner Band Patchwork nicht nur auf dem Managersessel sondern
auch am Schlagzeug. Bis dahin aber war es ein weiter Weg und kein leichter,
auch wenn Menzel auf seine vergangenen Jahre immer froh und glücklich
zurückblickt. Nach der Rückkehr der Familie nach Brandenburg
an der Havel engagierte er sich von Kindesbeinen an in Pfarrer Rupprechts
Dreifaltigkeitsgemeinde, und machte Musik, Musik, Musik. Über die
Musik konnten sich Menzel und seine Freunde von der Seele spielen, was
sie an der DDR mehr und mehr zu stören begann, wenn es ihn auch
mit Dank erfüllt, dass er trotz seiner sozialen Herkunft, seines
unangepassten Elternhauses und eigenen Auftretens, seiner Verweigerung
der Jugendweihe etc. das Abitur als Zerspanungsfacharbeiter im Getriebewerk
machen durfte. Was immer die Genossen sich mit dieser Bewilligung ausgerechnet
haben mochten, bei Menzel schlug es nicht so richtig an. Geschützt
durch den kirchlichen Raum und später sogar vor den Kirchentüren
sangen und spielten die jugendlichen Querpfeifer weiter, und was sie
zu Gehör brachten, das hätte schwerlich ins Repertoire des
Oktoberklubs gepasst. Zwar leistete er seinen normalen Grundwehrdienst
– aber auch da fand sich blitzschnell eine Truppe zusammen, die
in Uniform über die Dörfer tingelte und aufspielte. Zeitgleich
mit „Keimzeit“ ergatterte man eine der begehrten Musikerlizenzen.
An seiner systemkritischen Haltung änderte sich nichts. Weiterhin
war er, wie er sich ausdrückt „musikalisch-oppositionell“
unterwegs. Sie waren halt nur nicht gefährlich genug, wie Bandmitglied
Christoph Kießig süffisant bemerkte, um verboten zu werden.
Man ließ Menzel sogar in Greifswald Zahnmedizin studieren. Doch
nebenbei sollte er Reserveoffizier der NVA werden. Da hat's dem ökumenischen
Christen gelangt. Er schmiss hin, wurde Gärtner im Marienkrankenhaus,
lernte später Instrumentenbauer und fing bei Meister Artl an. 1988
noch, als „Patchwork“ von einem mutigen Kulturfunktionär
ins Philipp-Müller zu einem Kulturausscheid eingeladen wurde, rockten
sie das Haus. Die Jury war begeistert. Den „Lappen“, wie
die Musikerlizenz fachintern genannt wurde, bekamen sie dennoch nicht.
Man konnte schlecht die renitenten Musiker trotz formidabler Leistung
noch für ihre Unverschämtheiten belobigen. Genau ein Jahr
später vertrat dieselbe Truppe „Patchwork“ mit „Keimzeit“
gemeinsam die Stadt Brandenburg an der Havel bei ihrer Partnerstadt
Kaiserslautern auf musikalischer Ebene. Heute sitzt Menzel in dem Sessel
im cafe contact, den Kuno Pagels einst innehatte. Die Klientel des Hauses
hat sich gewandelt. Für die Randständigen der neuen Gesellschaft
hält es aber weiterhin seine Tore weit geöffnet – dieses
1555 erbaute Haus an der Burgmühle, das Menzel als erstes Jugendberufshilfeprojekt
im Land Brandenburg mit Jugendlichen und Fachfirmen gemeinsam restaurierte.
1,3 Millionen DM hatte er seinerzeit dafür eingeworben. Zu DDR-Zeiten
wäre das nicht denkbar gewesen. Hier kann er in großer beruflicher
Freiheit für seine Jugendlichen tätig sein, hat keine Wanzen
und keine Staatssicherheit mehr im Haus, wie damals 1976, als „die
Firma“ nach dem Ausreiseantrag der großen Schwester den
Menzel'schen Hausstand auf den Kopf stellte und der Großmutter
von innen die Türe zuhielt, als die unverhofft kam um die Blumen
zu gießen. Heute lacht der ehrenamtliche Notfallseelsorger drüber.
Dass man das kann, ist eine der guten Seiten der Wende von 1989.