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Keine Macht dem Wahlbetrug!
Wie Erhard Gottschalk 1989 die Stimmen nachzählte

Michael L. Hübner
Das muss ein Alptraum für die sozialistische Wahlkommission gewesen sein, als ein studierter Mathematiker, erfahren auf den Gebieten der Analyse und der Statistik, am Abend des 7. Mai 1989 ein Brandenburger Wahllokal betrat um sein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Beobachtung der Stimmauszählung wahrzunehmen. Und dabei war er nicht allein. Insgesamt acht Wahllokale wurden vom Friedensarbeitskreis heimgesucht. Was wollten nur diese Störenfriede, die den Traum von der sozialistischen Menschengemeinschaft schon seit Jahren immer wieder penetrant attackierten? Dabei standen doch wie üblich die Wahlergebnisse schon lange vor der Wahl fest: Begeisternde 98,9%! Was gab es denn da nachzuzählen? Alle waren doch wie vorgeschrieben glücklich! Wer waren diese Leute, die seit dem Anfang der Achtziger unter dem schützenden Dach der Kirche den Samen legten für die aufkeimende Demokratiebewegung der DDR? Es waren Menschen wie der im Stahl- und Walzwerk als Mathematiker angestellte Erhard Gottschalk, die sich nicht abfinden wollten mit den immer aberwitzigeren Diskrepanzen zwischen jubelnder Berichterstattung, fortwährenden „Plananpassungen“ und einer Realität, die unbeirrt dem Wirtschaftskollaps entgegensteuerte. Der 1947 in Creuzburg bei Eisenach geborene und in Genthin aufgewachsene Gottschalk gründete gemeinsam mit Leuten vom Landesjugendpfarramt den Friedensarbeitskreis bereits Anfang der Achtziger und war in ihm aktiv. Umweltfragen beschäftigten ihn sehr und brachten ihn zeitig zu einer distanzierten Haltung dem Staat gegenüber. Für die DDR-Obrigkeit war ein Bekenntnis zum Umweltschutz gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zum Klassenfeind. Das scherte den Mathematiker jedoch nicht weiter und so trat er der Arbeitsgruppe Ökologie im Fontaneklub bei, wurde sogar ehrenamtlicher Umweltinspektor mit eigenem Ausweis, weil er hoffte, so an belastbare Daten heranzukommen. Müllkippen durfte er besichtigen – aber Daten, nein da mauerten die Genossen eifrig weiter. Gottschalk fand dann schnell den Kontakt zu anderen Aktivisten, die der Wende in Brandenburg zum Durchbruch verhelfen sollten: Kuno Pagel, Paul Pribbernow, Micha Engst und Wolfgang Rudolph, das Ehepaar Geiersberg und Buchhändler Astler und viele andere wurden zu seinen Weggefährten. Einer der Ihren schrieb dann an die Wahlkommission über ihre Beobachtungen und wie die sich doch von der offiziellen Berichterstattung unterschieden. Ja, eine Resonanz gab es. Die angeschriebene Stelle beschwerte sich beim Superintendenten über das renitente Wahlvolk, was sich nicht in die Herde des braven Stimmviehs einreihen wollte. Es nutzte nichts. Die Aufrührer machten unverdrossen weiter. Dabei wollten sie den Sozialismus gar nicht abschaffen. Sie wollten nur die verkrusteten Strukturen aufbrechen und der sozialistischen Idee zum Durchbruch verhelfen. Vor allem aber wollten sie endlich auch außerhalb der Kirche aktiv werden – ihr Engagement nach außen tragen, die Massen erreichen. Und so hielt am 12.10.1989 der Kirchenkreis in der Bergstraße 14 jene legendäre Versammlung unter dem Motto „Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Umwelt“ ab, zu deren Organisatoren Gottschalk gehörte. Die Stasi ließ verlauten, es handele sich um eine Veranstaltung des Neuen Forums. Das aber war Blödsinn, denn das Brandenburger Neue Forum gründete sich erst acht Tage später in der Kirche von Kirchmöser-West. Gottschalk sollte zum Präsidiumssprecher gewählt werden. Doch er lehnte ab. Er stand noch voll im Arbeitsprozess. Das hätte er nicht stemmen können. Doch nun war die Aktion dort, wo er und seine Freunde sie immer haben wollten: draußen, auf der Straße, beim Volk! Natürlich war er bei der Menschenkette durch die Havelstadt dabei und auch bei der großen Demo, als Wolfgang Rudolph der Kreisparteileitung das Mikrophon abdrehte. Natürlich engagierte er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten im Neuen Forum, die dann irgendwann in der Partei der Grünen aufging. Hier hat er noch heute seine politische Heimat. Froh ist er, dass die Wende in Brandenburg friedlich verlief. Es flogen keine Steine, es krachten keine Schüsse, es floss kein Blut. Das war wichtig. In welcher Gefahr sie sich in der Wendezeit befanden, dass ahnten sie erst viel später, als herauskam, dass viele von ihnen für die Einlieferung in Internierungslager vorgesehen waren. Noch aber marschierte im Jahre 1990 ein Fähnlein von sechs unverdrossenen und ungewählten Mitgliedern des Neuen Forums in die SVV, nahm Platz und verkündete frisch, frank und frei, von nun an wollten sie mitbestimmen. Die alten Fraktionen der Nationalen Front waren viel zu verunsichert um vehement zu widersprechen. Auch das war die Wende: Ein Machtvakuum und zerberstende Strukturen, wo neue, ersatzfähige noch nicht einmal in Sicht waren. Es galt neue Schulleiter aufzutreiben, denn auch die Erziehung der Kinder und die Neugestaltung des Unterrichts lagen Gottschalk am Herzen. „Wer einen Vorschlag machte, der bekam den Zuschlag“, erinnert sich Gottschalk – also zogen Buchhändler Astler und Erhard Gottschalk los um unbelastete Lehrer aufzutreiben, die bereit waren, das Amt eines Schulleiters zu übernehmen. Nicht ohne Erfolg. Eine beliebte Biologie-Lehrerin trieben sie in der Laubenkolonie auf, fragten sie, gewannen sie, schlugen sie vor. Sie wurde berufen. So einfach, glatt und unkompliziert lief so etwas letztmalig vor tausend Jahren, als ein paar Herzöge den späteren König Heinrich bei der Jagd abfingen um ihm die deutsche Königskrone anzutragen. Heute ist Gottschalk in der Leitung bei Fliedners beschäftigt. Der ruhige, wortkarge Ehemann und Vater zweier Töchter und zweier Söhne schaut aus seiner Wohnung über die Havel hinweg hinüber zu seiner Gotthardtkirche, der die Wende sichtbar gut getan hat. Eine Wende, an der er maßgeblich mitwirkte und die in Erhard Gottschalk einen aktiven Gestalter fand.

14. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
02.03.2009