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Die Naturkirche und der tote Spatz vom „Domino-Day“

S. M. Druckepennig
Jeden Tag überfahre ich mindestens viermal auf dem Weg in die Hauptstadt mit der Reichsbahn – oder wie sie sich jetzt auch immer nennen mag – den märkischen Strom, die bezaubernde Havel.
Bei dem Städtchen Werder trennt die Eisenbahnbrücke den Großen Zernsee, der von der schlängelnden Havel durchflossen wird, von deren südlichem Arm, welcher sich soeben dem Schwielowsee entwunden hat.
Im Norden also hat man den Blick auf einen der schönsten mir bekannten Seen, der sich mit einem stündlich wechselnden Gesichte dem Betrachter öffnet wie ein Tulpenkelch, im Süden sieht man Werder, die Inselstadt, mit der neugotischen, doppeltürmigen Kirche.
Als ich nun neulich aus dem Fenster der Redaktion des Landboten sah – vor mir die beiden gegen den Himmel strebenden, gleichgroßen Dreiecke des Turmdaches der Plauer Kirche und der rechts neben ihr stehenden Tanne, da kam mir der Gedanke! Irgend etwas war mir schon immer unterbewußt aufgefallen, wenn der Zug über die Eisenbahnbrücke glitt und ich auf den Großen Zernsee hinaussah – ich kam nur nicht darauf, was es gewesen sein mochte.
Jetzt aber hatte ich’s!
Wenn man aus dem Zugabteil, von der Eisenbahnbrücke nach Süden blickt, dann sieht man – wie schon erwähnt – die Doppeltürme der Kirche zu Werder. Denkt man sich aber die Brücke als Spiegelachse, und sieht man durch sie hindurch nach Nordwesten, so wird man eines Phänomens gewahr: Da hat sich doch die Natur ein Pendant zum steinernen Gotteshaus geschaffen! Da richten sich am Ufer des Großen Zernsees nebeneinander zwei mächtige Pappeln auf. Damit die Botschaft verstanden werde, lassen sie sich im Osten von einem großen Laubbaum begleiten, der das Äquivalent zum Kirchenschiff gibt. Eine mächtige Kuppel wölbt dieses „Gotteshaus“, das sich die von den christlichen Missionaren vertriebenen Götter der Mark an einer Stelle errichtet haben, die noch nicht zersiedelt wurde.
Welch eine Symbolik!
Bonifatius, der Fanatiker, setzte seine Axt an die Irminsul und fällte sie vor den Augen derer, die ihre Götter in jedem Strauch, in jedem Baum, in jedem Tier suchten und fanden. Diese Naturgötter wurden von Bonifaz und seinen Spießgesellen als Götzen denunziert.
Man sollt nur zu dem Einen beten! Die Folge war, daß die Menschen wirklich den hanebüchenen Blödsinn glaubten, dieser Gott hätte die Welt nur geschaffen, damit sie den Kindern Adams und Evas dienstbar sei! In diesem Moment verloren sie den Bezug, den Respekt und die Achtung zu der sie nährenden Natur und nur einen Augenblick später den Bezug zu sich selbst. Der Verfall der christlichen Zivilisation begann, ehe sie sich überhaupt etabliert hatte.
Was daraus geworden ist?
Unter anderem der „Domino-Day“! Während Abermilliarden Menschen auf dieser Welt nicht wissen, wie sie den Tag überstehen sollen, haben andere auf Kosten dieser armen Teufel offensichtlich Zeit und Geld im Überfluß. Und damit sie diese Ressourcen möglichst sinnentleert vergeuden, bauen manche von ihnen viele Millionen Dominosteine zusammen, die sich, einmal angestoßen, alle miteinander umschubsen sollen. Tun die Steinchen das, fallen sich die Leute in die Arme und heulen vor Freude. Bleiben sie hingegen stehen, fallen sich die Leute in die Arme und heulen vor Elend. Es ist dann, als wüßten SIE nicht, wie sie sich und ihre Kinder über den morgigen Tag bringen sollen.
Nun hat es sich begeben, daß sich ein kleiner Spatz in die riesige Halle verirrt hat, in der man mit dem Aufbau der gigantischen Domino-Konstruktion befaßt war. Bei einer der vorigen Arrangements war sogar ein künstlicher Vogel an einer Leine durch den Saal geschwebt, und hatte an einem entfernten Punkt eine erneute Kettenreaktion in Gang gebracht. Alles jubelte verzückt!
Diesmal aber war es das Leben, was in die Kunstwelt einbrach. Das Leben in Gestalt eines kleinen Spatzes. Aber was hat das Leben in Kunstwelten verloren?!
Das durfte nicht sein! Der kleine Vogel brachte ja mit seinem Geflatter die „Arbeit“ der vergangenen Wochen und Monate in „Gefahr“! Es hätte ja mit einem Mal alles einstürzen können.
„Ob das nicht Sinn und Zweck der Sache ist“, fragen Sie? Natürlich ist es das!
Aber es muß dann geschehen, wenn der Nackte Affe das will! Wenn er zufrieden ist mit dem Spielchen, was er sich da ausgeheckt hat. Es muß zu einem kontrollierten Zeitpunkt passieren, dann, wenn Millionen anderer Nackter Affen zusehen und sich an den bunten Bildchen ergötzen. Verstehen Sie: Kontrolle ist das Zauberwort!
Dinge, die sich der Kontrolle von Kunstwelten entziehen oder ihr gar zuwider handeln, wie das Leben in Gestalt eines kleinen Vogels, müssen bekämpft werden.
Man versuchte den Störenfried einzufangen um ihn aus der Kunstwelt zu verbannen. Das mißlang. Also wurde der kleine Spatz getötet. Punkt!
Die Märchen Hans-Christian Andersens werden wohl in Vergessenheit geraten sein. Zumindest scheint niemand mehr eine Moral aus der Geschichte „Die Nachtigall“ zu ziehen.
Das Leben in Gestalt eines kleinen Spatzen wurde eliminiert, weil es in einer verspinnerten und völlig redundanten Kunst- und Parallelwelt störte. Ich bin überzeugt, das Leben hat sich diese Lektion gemerkt. Wir wollen sehen, wer am Ende wen aus seiner Welt herauskatapultiert. Die Zeitschrift „Welt der Wunder“ (1/05, S.65ff.) hat da jüngst einen sehr anschaulichen Beitrag geliefert, als es die Veränderung und Rückeroberung der Landschaft durch die Natur nach dem Aussterben der Menschheit bebildert darstellte.
In dem sehr beachtlichen amerikanischen Film „Der Mann, der aus dem Eise kam“, wurde ein eiszeitlicher Jäger mit der modernen Zivilisation konfrontiert. Der Jäger faßte den Vogel als Götterboten auf. „KITA“ nannte er ihn. Das ist mir noch erinnerlich.
Für die modernen Forscher hingegen war das Tier nur noch ein Gegenstand bestenfalls ornithologischen Interesses.
Am Ufer der Großen Zernsees haben sich die alten Götter eine Gegenkirche erbaut, geschaffen aus den unerreichten Strukturen des geordneten Chaos’ und der chaotischen Ordnung. Um Dimensionen perfekter als die steinerne Kirche auf der anderen Seite des Spiegels, um Dimensionen perfekter als das alberne Dominosteinchen-Kunstgebilde. Heimat ist dieser natürliche Tempel vielen kleinen „Götterboten“.
Lassen wir uns überraschen, welches Gotteshaus die Zeiten überdauern wird.
Ich fürchte nur, eine echte Überraschung wird es nur denen sein, deren Seelen vor Wohlstand und Langeweile und billiger Vergnügungssucht so erblindet sind, wie uralte Spiegel an der Wand!

7. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005