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Schalterwarten bei der Deutschen Bahn

Don Miquele Barbagrigia
"Na, lieber Schulze! Morgen früh um Zehne nach Hamburg? Doll, doll! Von wo? Berlin Zoo? Na, Schulze, dann stellen Se sich man schon um Achte an, damit Se Ihr Billet noch kriegen! Hö, hö!"
"Aber was denn! Am Zoo gibt's doch massig Schalter." "Jaaaaa, mein Lieber, wenn die man alle besetzt wären..."
Sind sie aber nicht. In den allerseltensten Fällen sind sie das. Die Bahn scheint anders zu konzipieren. Nur eine Warteschlange von mindestens einem Dutzend Leuten ist eine gesunde Warteschlange! Das muß den Reisenden unterm Mantel kribbeln. In zehn Minuten pfeift der Schaffner auf dem Perron zwei Stockwerke über einem den Zug ab, und der fette Knülch dort vorn lümmelt über die Fahrschientheke und hat seit einer Viertelstunde seinen feisten Leib um nicht einen einzigen Millimeter bewegt. Neben dem gequälten Ächzen der zierlichen Dame im Maßstab 1:1,5 hinter Schulzen vernimmt man nur noch das Schnaufen des Dicken und das sonore Klappern der Tastatur auf der anderen Seite des Counters.
Indeß – die Wartenden stehen alle gemeinsam in einer Reihe für die fünf geöffneten Schalter an. Das heißt, wird ein begehrter Platz frei, dann kann ein Auserwählter, ein Götterkind, ein die einer Initiation gleichenden Warteprüfung bestanden Habender aus der Schlange aufrücken.
Fein – aber es wird keiner frei! Die kleine Rothaarige dort hinten stammt offensichtlich aus dem Lande der Rothaarigen, der schönen grünen Insel Irland und spricht daher Englisch. Das versucht die Reichsbahnerin auch. Beim Versuch aber bleibt es. Das Ziel der Rothaarigen verharrt in einer Grauzone. "Menschenskind, Du Gake, verkauf ihr doch eine Karte nach London! Von da fährt bestimmt ein Bus!" Der Fluch verhallt ungehört.
Schulzen hofft auf das Rentnerehepaar, bei dem die Frau die Führung übernommen hat und dem jungen Spund von Kartenverkäufer zu erklären sucht, wo die Schwägerin wohnt und wie man letztes Jahr dort hingelangt sei. Man habe soundsoviel bezahlt..."wieso jetzt € 255,-? Letztes Ostern waren es € 248,- und da hatten wir unser Enkelchen dabei!" Buchstabier einer entrüsteten Mittsiebzigerin das Wort Tariferhöhung. Dazu hätte sie schon ihr Leben lang in der Chefetage des Reichsbahnvorstandes Staub saugen müssen. Der Alte will etwas sagen. Eine unwirsche Handbewegung der streitbaren Greisin läßt ihn abrupt verstummen. Es ist kein Ende abzusehen.
Aber da: Schalter 3? Die Spindeldürre, Typ Lehrerin, Dutt, aufdringlich durchsichtige Bluse, welche notdürftig einen urstabilen BH verhüllt, der seinerseits zum Wohle der Umwelt..., na, lassen wir das! Ein geblümter Rock verhüllt gewagt nur die ersten Drittel ihrer Beine, welch letztere unschwer erkennen lassen, daß die Dame vor kurzem gegen einen Storch gepokert und gewonnen hat. Adebar mußte ihr wohl seine Stelzen abtreten. Das wirklich Schlimmste an der Frau aber ist ihr Maul. Das geht unentwegt und offeriert zwischen Nebenbemerkungen über Lippengloss, Haushalt und Entenbrust der Schalterbeamtin sämtliche Fahralternativen ihrer geplanten Strecke. Indem die Quasselstrippe ihren Stahl-BH immer weiter über den Tresen schiebt, dabei ihren ohnehin schon spindeldürren Hals reckt und verdreht, um an dem ihr völlig unverständlichen Geschehen auf dem Monitor teilzuhaben, wird es auf der anderen Seite des Schalters ungemütlich. Die Rollen des Drehstuhls der Schalterbeamtin drängen ins Landesinnere. Alles bläst auch in der Beamtin zum Rückzug. Das mag aber wohl auch der süßlichen Wolke geschuldet sein, die die Paukerin umgibt. Wie dem auch sei – während die reisende Pädagogin schon allein ob der schieren Dauer des Gespräches eine quasifamiliäre Beziehung zu der Kartenverkäuferin aufzunehmen im Begriffe steht, wächst proportional zur Länge der Warteschlange auch das Spannungsfeld zwischen Zorn und Verzweiflung in der Selbigen. Besonders deutlich wird dies nach Ablauf des Äons, das die Vielschwätzerin mit dem Kauf ihres Billets verbracht hat. Die Abschiedsszene zieht sich in die Länge wie ein hartnäckiger Kaugummi. Da, sie dreht ab!
Nö – denkste. Nach drei Schritten in Richtung Ausgang – der baumlange Neger vor Schulzen hatte schon zum hoffnungsvollen Sprunge angesetzt – kehrt sie um. Noch ein bißchen Seiern und Grinsen und Seiern und Grinsen. Den Schwarzen verlassen zusehends die Kräfte. Zwei Meter Ebenholz beginnen mittig einzuknicken. Kein Problem hat er, zwei Stunden unter der äthiopischen Sonne auf das Gnu zu warten – aber was die Weißen hier zusammenkochen, das nimmt ihm die Lebensgeister.
Etwas pfeift. Na, Schulze, Dein ICE nach Hamburg? Tja, Pech gehabt, mein Lieber, Wenn man auch zu geizig ist, den Strafzoll für den Fahrscheinverkauf im Zug zu blechen...!
Aber, wer wird den weinen? 'Ne schlappe halbe Stunde später geht doch ein Regionalexpreß über Löwenberg, von da eine Draisine bis Wittstock, dann geht ein Bus nach dem Tierpark Hagenbeck, und von dort kann man dann über den Schalter der Deutschen Bahn gleich ein Reitdromedar mieten. "Könn' se am Zielort anbinden und fertig. Läßt sich mit'm "Handy" freischalten. So modern sind wir schon!" Da nimmt man doch lächelnd eine halbe Stunde Wartezeit am Counter in Kauf. Schulze! Mann! Nun reißen Se sich mal 'n bißken zusammen! Nehm' Se sich mal'n Beispiel an dem Neger vor Ihnen. Der flennt doch auch nicht!
Aber dafür ist er kreidebleich, denn die gestelzte Dame quasselt immer noch ihren immerwährenden Abschied, das Rentnerehepaar quengelt, die Irin mümmelt ihren Brei aus Dinglisch und gälischen Flüchen, nur der bebrillte Student macht Anstalten, nach zähen Verhandlungen seinen sauer erstrittenen Platz am Schalter zu räumen. Der Neger atmet tief durch. Die Sonne geht auf in einer düsteren Schalterhalle des Bahnhofs Zoo. Das Leben geht weiter. Als ein zerknitterter Schulze dem Reisezentrum in Richtung verlassenen Bahnsteig entweicht, labert ihn einer von den verwahrlosten Streunern an, die von der Bahnhofsumgebung aus einem mystischen Grunde aufgesogen werden, wie die Motten vom Licht: "Ham Se mal 'n noch nich abjefaaaahnen Faahhschein?"
Schulze schaut etwas blöde aus seinem Nadelstreifen: "Watt denn Männekin, janz ohne Anstehen...???!"

7. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005