Einem Lehrer gewidmet
Jules-Francois Savinien
Lemarcou
„Bringen Sie sich nicht
um, meine Herrn!“ So dröhnte Herr Bajun beschwörend
in die Runde, als er des Freitags am späten Nachmittag in die
Redaktionsräume platzte. Fjö schaute sich verunsichert um
– wer von den Landboten sollte eine solch fatale Absicht hegen...?
„Sehen Sie“, fuhr der Kulturrusse erklärend fort,
„es ist doch so: Sie könnten, vorzeitig aus dem Leben geschieden,
etwas sehr Wesentliches verpassen – eine Begegnung zum Beispiel,
die Sie im Nachhinein geradezu beseligt.“
Was er nur wollte? Der Alte hatte seinen Vize in die Reichshauptstadt
entsandt um dort etwas Gescheites zu lernen, was der Gazette von Nutzen
sein könnte. Und zur Zeit bemühte er sich um die Geheimnisse
des Rechnerprogramms „Büro“ der weltbekannten Weichware-Firma
„Winzigweich“.
„Ja, das Tippeln, das ist eine Sache!“ begann er hochfahrend
zu psalmodieren. Die wichtigtuerische Mine verlängerte sein Gesicht
auf Trakehnerstandard. „Das kann man aber auf jeder beliebigen
Schreibmaschine. Man muß mehr machen aus den Programmen „Wort
2000“ und „Vortreff 2000“, meine Herrn!“
Wir ahnten, daß er das Schreib- und das Tabellenkalkulationsprogramm
ansprach, die uns bis dato ganz gut über die Runden halfen. Wir
alle hämmerten unsere Texte auf ihnen in den Rechner und Herr
Druckepennig konnte sogar bislang ganz gut die Finanzen summieren,
die wir nicht besaßen.
Doch Herr Bajun war nicht mehr zu bremsen: „Meine Herrn, es
liegen ja soooo viele Möglichkeiten in dieser Weichware –
wir schwimmen ja nur auf der Oberfläche eines Ozeans.“
Dann entstöpselte der Vize dem verdutzen Herrn Barbagrigia den
Freudenstock, mit dem dieser soeben noch auf dem Firmenrechner ein
virtuelles Flugzeug über den ebenfalls virtuellen Himmel von
Berlin gesteuert hatte. Die Cessna stürzte ab. „Mitten
auf’s Familiengericht Tempelhof-Kreuzberg...“, stöhnte
Don Miquele. Daß unser vom Jugendamt gezeichneter Ladenschwengel
verstohlen ein „Gäb’s Gott!“ raunte, wollten
wir überhört haben.
Sekunden später hackte er bereits auf dem Schlüsselbrett
herum und zeichnete mit einer Plastemaus Linien über den Bildschirm.
Auf dem vormals weißen Papier des Wort-Dokumentes erschienen
Tabellen und Formeln und Kalkulationen und merkwürdige Aussagen,
die sich auf Tastendruck manifestierten und unseren Krankenstand des
letzten Quartals beinhalteten. Fjö runzelte die Stirn und musterte
uns über seine Brille hinweg aufmerksam.
Die ersten Flüche murmelten durch den Qualm der cheflichen Pfeife.
Kotofeij Kryisowitsch aber fuhr unvermittelt fort. „Und das“,
triumphierte er begeistert, ohne die finsteren Minen der Umstehenden
näherer Betrachtung zu würdigen, „habe ich einem zu
danken, der sich mit Fug und Recht „Lehrer“ nennen darf.
Davon gibt’s nicht allzu viele. Aber der ist echt!“
Ja, lieber Leser, was ist ein Lehrer? Wahrscheinlich wird jetzt vor
Ihrem inneren Auge die Gemeinschaft der Schulpädagogen Revue
paradieren, die Ihnen so manchen Tag in zehn, zwölf Jahren das
Leben hat sauer werden lassen. War ein echter Lehrer darunter? Dann
schätzen Sie sich glücklich! Woran Sie ihn oder sie erkennen?
Na, wenn Sie sich gerne an ihn erinnern und – und das ist das
Allerwichtigste – wenn sie etwas von ihm mitnehmen konnten.
Nicht die Taschenuhr, Menschenskind! Etwas Immaterielles, Geist, Bildung,
Wissen...! Etwas, was Sie in Ihrem weiteren Leben stärkt. Aber
das ist noch nicht alles, was einen „Lehrer“ ausmacht.
Ein kleines Detail fehlt noch. Aber es ist das wichtigste überhaupt:
Achten Sie auf seinen Gesichtsausdruck, wenn Sie erkennen ließen,
daß Sie etwas von dem begriffen hatten, was er Ihnen nahezubringen
suchte. Freute er sich? War er glücklich? Sie stellten sich dämlich
und begriffsstutzig an... Wie stand es um seine Geduld mit Ihnen,
als schon die ersten Papierflugzeuge den Luftraum über den Köpfen
Ihrer Klassenkameraden eroberten? Blieb er bei Ihnen...? Oder ließ
er los? Nein? Hat er nicht? Na, dann war er der Guten einer.
Dann war er ein Lehrer von Format. Einer wie jener Herr Holger R.,
um dessen verpaßte Begegnung willen Herr Bajun seinem Grabe
entsprungen wäre.
Aber das hat er nicht müssen, unser Russensohn. Und so hämmerte
er weiter seine verschachtelten Funktionen in den Rechner und –
zufrieden wie ein satter Säugling – lächelte er, als
er die letzte Taste drückte, und sich Zahlenkolonnen seinem bajunigen
Willen fügten und einschwenkten in die Richtung, die er ihnen
mit seinen Befehlen gewiesen hatte.
Als wir uns zu zerstreuen begannen, raunte mir Herr Akinokawa ins
Ohr: „Wie will er jetzt noch arbeiten an seinem Schreibtisch,
der verrückte Russe? Alles voller Bilder, sehen Sie nur!“
Und tatsächlich war wieder eines dazugekommen und bereicherte
den Bajun’schen Bilderwald. Da stand Bach neben Vivaldi, Friedrich
der Große zwischen Lichtenberg, Tucholsky und Panizza, Bosch
drängelte Schischkin gegen den Rand des Tisches, der, von Paracelsus
und Spinoza gehalten, seinem drohenden Absturz zum Trotz wacker in
den Sibirischen Himmel hineinstarrte. Aber dort, wo Herrn Bajuns Tintenfaß
bislang residierte, sah ein lächelnder Mann mit Kinnbärtchen
auf sein blaues Hemde herab, während der Sibirjake Bajun, entstellt
von unserem hinterlistigen Ladenschwengel und dessen Lieblingsspielzeug
„Adobe Lichtbildgeschäft CS“, über dem Abgelichteten
hinwegzuschweben schien.
Weder die Herrn Bajun angedichteten Hörner, noch die in die Länge
gezogenen Zähne, Ohren, Nase vermochten die Laune des derart
Verunstalteten zu trüben: „Wenn der Hübner was taugen
täte“, meinte er grinsend, „dann wäre er ein
Lehrer geworden. So wie der hier!“ und wies mit dem Finger auf
den Blaubehemdeten. So aber bleibt er, was er ist – einfach
nur der Ladenschwengel des Preußischen Landboten. Es sei denn,
Herr Fjöllfross, Sie schicken ihn nach Berlin zu dem Herrn R...“
Fjö krempelte seine Hosentaschen um und zuckte mit den Schultern:
“Sie sehen, lieber Bajun..., aber es freut mich für Sie,
daß Sie die Gelegenheit hatten. Muß ein doller Mann sein,
der Herr R. aus Mittenwalde!“
Ja, lieber Herr Hauptschriftleiter, das ist er. Fürwahr, das
ist er.