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Deutsche Geisel im Zweistromland

Don Miquele Barbagrigia
Ende November 2005 wird im Irak eine Archäologin deutscher Herkunft entführt. Ein elendes Verbrechergesindel will damit die Forderung erpressen, die Bundesrepublik solle sich aus ihrem Engagement zum Wiederaufbau des geschundenen Landes zurückziehen. Widrigenfalls wolle man die Frau und ihren Fahrer umbringen.
Diese Praxis, so fatal und barbarisch sie auch ist, stellt nichts Neues dar. Neu ist lediglich, daß eine Geisel nunmehr einen deutschen Paß ihr eigen nennt. Und jetzt heult die Boulevardpresse auf: „Betet für sie!“, so hämmerte es uns vor wenigen Tagen von den Zeitungsständern der Kioske entgegen.
Das entsprechende Fernsehen überschlug sich und rückte gar der ohnehin schon schwer geplagten Mutter auf den Leib. Und da wird es wirklich unappetitlich.
Wir haben Verständnis, daß die auf Kommerz und Verkauf gedrillten Vertreter unserer Zunft sehen müssen, wo sie bleiben. Aber es gibt Grenzen.
Es sieht so aus, als verdienten diese Schmierenjournaillen ihr Geld nur noch im Spannungsfeld zwischen dem Elend der Betroffenen einerseits und der niedrigen Sensationsgier und Schlüssellochguckerei auf der anderen Seite.
Und was heißt überhaupt: „eine Deutsche“? Was soll das Getute in das nationale Horn? Ist es weniger tragisch, wenn Kuweitis, Amerikaner, Italiener, Engländer entführt werden? Hat uns das weniger zu berühren? Hier geht es um Menschenschicksale, nicht um das Schicksal eines Franzosen, Spaniers oder einer Deutschen!
Nein, die Schmierfinken reiten eine andere Schindmähre. Oder sollten wir gleich sagen: eine Chimäre? Hier geht es um einen verlogenen Schulterschluß, hier geht es um die Beschwörung eines Phantoms: „Deutsche – wir sind doch eine Familie!“ – so lautet die Botschaft. Und: „Die durchgeknallten Wüstenbarbaren entführen unsere Frauen!“ Das schafft Kollektivgeist. Für Minuten ist vergessen, daß erst in jüngster Vergangenheit überforderte deutsche Jugendämter deutschen Familien mit staatlich sanktionierten Kindesentführungen lebenslange Traumata beibrachten, (man gedenke des Wormser Prozesses), vergessen, daß deutsche Ausbeuter und Wirtschaftskriminelle deutschen Arbeitern so tief in die Tasche fassen, daß Millionen nicht mehr wissen, wie es morgen weiter geht. Ein Feind von außen – ein Traum für alle, die gern von den heimatlichen Konflikten ablenken möchten.
Die Archäologin aus Süddeutschland lebt seit langem in Mesopotamien. Sie kennt Land und Leute und die Verhältnisse dieses Landes zwischen Euphrat und Tigris wahrscheinlich besser, als die deutsche Botschaft in Bagdad. Arabisch spricht sie dem Vernehmen nach perfekt. So ist davon auszugehen, daß sie die Drohungen verstanden hat, die ihr von Seiten dieser Verbrecher immer wieder mal übermittelt wurden.
Daß sie dennoch vor Ort blieb und den Gebeutelten half, wie sie immer nur konnte, das ehrt sie im höchsten Maße. Das macht sie zu einer wahren Soldatin. Doch selbst, wenn sie sich dieser Verdienste nicht rühmen könnte, so bliebe doch ihre persönliche Integrität völlig unangetastet. Die dennoch Hand an sie legten, sind gemeine Strolche und Lumpen, die man mit allen Mitteln zur Strecke bringen soll. Eine solche Entführung ist durch nichts zu entschuldigen.
Doch jetzt kommt der Punkt, an dem wir einhaken: Die primitive Logik der Gangster lautet: Willst du etwas von einem bestimmten Land erpressen, so kidnappe einen Menschen, der den entsprechenden Paß in der Tasche trägt. Die Schuld der deutschen Boulevardpresse besteht ganz eindeutig nun darin, daß sie genau auf diesen Zug aufspringt, eine von den Banditen gewünschte Stimmung anheizt und eben diese nationalen Ressentiments, die im Alltag sonst kein Aas interessieren, aus der verschwurbelten Nebelecke der Geschichtskammer hervorwühlen. Damit erzeugt sie einen völlig unnötigen Druck. Würde man in Entführerkreisen nämlich zur Kenntnis nehmen müssen, daß der Appell an nationale Interessen im Wüstensand versickert und das Gesindel lediglich als gewöhnliche Verbrecher, die sie ja zweifelsohne sind, gejagt und verfolgt wird – man würde recht bald die Finger von weiteren kriminellen Akten dieser Art lassen.
Worauf läuft das Ganze hinaus? Wollen wir mal spekulieren, wie könnte ein günstiges Szenario wohl aussehen: Sobald das öffentliche Interesse an diesem Fall in der Bundesrepublik wieder etwas nachgelassen hat, werden auf sich im Hintergrund öffnenden Geheimkanälen einige Millionen Euro aus einem steuerfinanzierten Sonderfonds der Bundesregierung in die Taschen der irakischen Räuberhauptleute fließen, die sodann die Archäologin in die Heimat entlassen. Beim Empfang der schwer mitgenommenen Frau gibt’s noch mal einen gewaltigen Medienrummel – die Yellow Press kassiert ein weiteres Mal kräftig ab. Dann wird ein vergleichsweise mäßiges Honorarangebot für die Exklusivrechte an der Story offeriert, an der man sich ein drittes Mal schamlos bereichert. Der doofe Michel zahlt wie immer alles: Steuern für den Sonderfond, Zeitungsgeld, Fernsehgebühren usw. usw.
Herr von Klaeden – man erinnere sich an den smarten Untersuchungsführer aus dem Visa-Ausschuß um den Fischer/Vollmer-Erlaß – wird tönend verkünden, daß man den Forderungen der Entführer nicht nachgegeben hat und politische Punkte sammeln. Dabei hätte er nicht einmal gelogen – denn wäre es im Ernst vorstellbar, daß die deutsche Geschäftswelt sich aus lukrativen Gewinnchancen zurückzieht, nur um einer humanistisch engagierten Archäologin den Kragen zu retten? Sehen Sie, da müssen auch Sie lächeln: wie absurd, dieser Gedanke!
Im schlimmsten Falle ist die Frau tot. Wie es aber auch immer kommen mag: in einem Jahr spricht kein Mensch mehr über sie, kennt kaum noch jemand ihren Namen. Sie wird so oder so zu einem dreckigen Tagesgeschäft degradiert, nicht minder dreckig, als das ihrer Entführer.
Das glauben Sie nicht? Dann sagen Sie mal aus dem Stegreif, wer Christina Nytsch und Ulrike Everts waren! Ich gebe Ihnen noch ein Tip: die eine mit der Ponykutsche unterwegs und die andere auf dem Weg vom Schwimmbad von einem Dämon namens Ronny Rieken bestialisch vergewaltigt und ermordet. Und – wer spricht heute noch davon? Was hat sich nach dem sinnlosen Tod des armen Mädels geändert in der politischen Landschaft Deutschlands – denn: auch Christina war eine „Deutsche“! Als ob das eine gottverdammte Rolle spielte! Das Mädchen wurde ein Opfer selbstsüchtiger und brutalster Gewalt. Punkt! Und zwar nicht im fernen Irak – nein hier, bei „uns“, mitten in der guten Stube. Und wie viele Kinder mußten seither denselben schweren Weg beschreiten! Hier kann sich die nationale Presse austoben, hier kann sie die „Volksgemeinschaft“ mobilisieren im Kampf gegen jenes Ungeziefer.
Den Fall der erwachsenen, entführten Archäologin aber soll man lösen, wie das gewöhnlich in solchen Fällen geschieht. Man soll zusehen, wie man ihr Leben erhalten kann – und da ist das primitive Pressegetöse absolut unangebracht. Dort kann Michel nicht viel ausrichten – wenn überhaupt können das seine Diplomaten. Aber hier, hier zuhause, da gäbe es fürwahr eine Menge zu tun! Für jeden einzelnen von „uns“!

7. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005