Hänsel und Gretel
kritische Betrachtung und Neuerzählung
eines Horrormärchens der Gebrüder Grimm
meinem geliebten Vetter, dem Herrn
Dipl. Ing. St. M. aus W. zugeeignet
K. K. Bajun
Langsam aber sicher scheinen
die Grimm'schen Hausmärchen in den Hintergrund des deutschen
literarischen Kulturschatzes zu treten. Das kann man getrost mit gemischten
Gefühlen bewerten. Einerseits spiegeln diese Geschichten die
Mentalität und die Lebensumstände längst vergangener
Generationen recht aussagekräftig wieder. Den Unterhaltungs-
und Erziehungswert für Kinder aber sollte man heute einer sehr
kritischen Prüfung unterziehen.
Sicher, die moderne deutsche Bevölkerung hat sich unter dem Eindruck
der fetten Nachkriegszeit eine moderate Abkehr vom gewalttätigen
Umgang ihrer Ahnen miteinander geleistet. Wiir dürfen aber mit
Recht bezweifeln, daß dieses Gutmenschentum eine länger
anhaltende Wirtschaftskrise überdauert. Doch das soll hier nicht
Gegenstand unserer Ausführungen sein. Das wohl bekannteste deutsche
Märchen, Hänsel und Gretel, möge für uns Revue
paradieren.
Wir wollen dem aufgezeichneten Märchen eine mögliche Wirklichkeit
gegenüberstellen und schauen, welche zu tiefst (un-)menschlichen
Motivationen der inhaltlichen Gestaltung solcher Märchen zu Grunde
liegen.
Wir erinnern uns: Hänsel und Gretel sind die Kinder armer Eltern,
die darauf sinnen, sich der "unnützen Fresser" zu entledigen.
Beide Eltern schicken die Kinder in den Wald, um dort Pilze und Beeren
zu sammeln. Dem Plan entsprechend verlaufen sich die Geschwister in
dem riesigen Gehölz und stoßen in höchster Not, dem
Hunger- und Kältetode nah, auf eine Hütte, die von einer
bösen Hexe bewohnt wird. Diese sinnt darauf, die Kinder nach
Hexenart zu fressen. Der Beherztheit des Mädchens war es zu danken,
daß dieser finstere Plan vereitelt und die Hexe dem hexentypischen
Flammentod zugeführt wurde. Nachdem man sich die Schätze
der Hexe angeeignet hatte, lebte man lustig und vergnügt bis
ans Ende usw. usw.
Wir kennen das
Gedöns und es ist uns über.
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Interessanter
scheint es uns den Dingen nachzuspüren, wie sie sich vielleicht
wirklich abgespielt haben könnten.
Im Jahre 1629 war der Weiler G. im Niedersächsischen ein gewöhnliches
Dorf am Rande eines riesigen Moor- und Waldgebietes. Die es bewohnten,
unterschieden sich in nichts von der übrigen Bevölkerung.
Es gab den Bürgermeister und den Pastor – man war lutherisch,
es gab die paar Großbauern und jede Menge Kleinbauern, Handwerker,
Mägde und Knechte, Hirten und Kossäten, Büdner und
Taglöhner und den obligatorischen Dorftrottel. Die Schichten
waren festgefügt – ein Jeder an seinem Platz. Die Grenzen
waren beinahe unüberwindlich. Nie wäre es dem Knecht Jakob
Hagedorn eingefallen, um die Tochter des Großbauern Pulcke zu
werben. Dafür aber ließ kein Pulcke es je unversucht, die
ärmeren Mädchen des Dorfes zu verführen. Man betrieb
das bei Pulckes Männern mit zweifelhaftem Ehrgeiz, über
den die Frauen des Hofes verbittert, aber zähneknirschend hinweggingen.
Solange die Familie beim sonntäglichen Gottesdienst nur den Schein
wahrte!
Zwei dieser Frauen, für die sich schon Großvater und Vater
Pulcke interessierten, waren die Jüngste des Dorfhirten Böttcher
und deren spätere Tochter Gertrud. Um diese gab es dann auf dem
Pulck'schen Hof einen Krach, der beinahe dazu führte, daß
der Alte dem Bengel das Erbe und dieser dem Alten das Altenteil verweigern
wollte. Die Frauen droschen mit Nudelholz und Forke drein und bekamen
das Ihrige retour. Das alles spielte sich natürlich hinter verschlossenem
Hoftor ab. Was aber allen gemeinsam war, das war die Wut auf die Hirtentochter.
Die Pulck'schen Weiber schalten sie eine Schlampe und ein Rabenaas,
die Männer zürnten, weil die Jungfer Böttcher ihnen
eine Nase drehte.
Ganz um das lebenslustige, schöne Mädchen war es geschehen,
als sie sich unsterblich in den durchreisenden kroatischen Theriakhändler
Staschko Jankowicz verliebte. Heißes Blut hatte er, der Staschko,
rabenschwarze, gelockte Haare, feurig schwarze und unendlich tiefe
Augen, jedes Instrument konnte er spielen und in seinem Lachen ertranken
die Frauen. Wenn er tanzte, wenn er erzählte von seinen langen
Reisen quer durch viele Länder, wenn er lachte – dann kam
die Hirtentochter Elisabeth Dorothea Böttcher nicht mehr von
ihm los. Wie man ihm auf seinen vielen Wegen auch oft übel mitgespielt
hatte – trotzdem konnte er so herzlich lachen. Und er verliebte
sich in das kesse Mädel.
Das aber brachte das Dorf in Rage: Der Hergelaufene, der Welsche!
Wußte man denn, ob das überhaupt ein Christ sei?
Sicher, kaum einer der Dörfler war wirklich selbst einer. Sie
führten den Christus nur im Maul – nicht im Herzen! Sie
wollten nur auf den Stachel im Fleische des Anderen achten, um nicht
über den Pfahl im eigenen nachdenken zu müssen.
"Der Welsche will unsere Hühner treten", so keifte
es durchs Dorf. Mit einem Mal war die Elisabeth, das Mensch, wieder
„eine von ihnen“! Denn es ging gegen den Fremden, den
Bösen, den Dieb, den vaterlandslosen Vagabunden. Der alte Böttcher
geriet in helle Aufregug, daß er, der verachtete Hirte, nun
endgültig im Wirtshaus verlacht werden würde und verprügelte
seine Tochter tüchtig. Der Elisabeth Böttcher und dem Staschko
Jankowicz blieb nur die Flucht. Der Voigt der zuständigen Herrschaft
war ein zum Glück aufgeklärter Mann von frommer Gesinnung
und so wies er den beiden eine verlassene Köhlerhütte tief
im angrenzenden herrschaftlichen Wald an. Der Köhler war im Vorjahr
gestorben, die Hütte stand leer.
An eine Eheschließung zwischen dem Staschko und seiner Elisabeth
aber war nicht im Mindesten zu denken. Das wäre was für
den Herrn Pastor gewesen! Hatte er nicht selbst der Elisabeth den
ein oder anderen säuischen Antrag gemacht? Hatte sie ihn, den
studierten Mann nicht abgewiesen um ihm jetzt zu zeigen, daß
er noch hinter einem hergelaufenen Haderlumpen rangierte! Da sei der
protestantische Gott davor!
Das Kind, das Elisabeth Böttcher ihrem Staschko im Jahre 1569
gebar, war somit ein Kind der Sünde, ein Bastard. Es fehlte nicht
viel, und Pastor Trögler hätte die kleine Gertrud Elisabeth
im Taufbecken ersäuft. Wenige waren es, die den Täufling
im Anschluß mit einem bescheidenen Feste ehrten.
Erst später sollte das Mädchen in das Bewußtsein seines
Volkes rücken. Da aber hieß sie nicht mehr Gertrud Elisabeth
Böttcherin, da hieß sie nur noch "Die böse Hexe".
Noch aber war es nicht so weit. Gertrud wuchs bei ihren Eltern in
der alten Köhlerhütte auf. Ein paar Mal im Jahr kam Staschko
noch von seinen Handelszügen nach Hause, dann irgendwann kam
er nicht mehr. Daß in der fünfzig Meilen entfernten Stadt
S. zwei Handwerksburschen wegen des Raubmordes an einem fahrenden
kroatischen Theriakhändler aufs Rad geflochten wurden, drang
nicht bis in den Wald zu Elisabeth Böttcher.
Sie verzehrte sich nach ihrem Staschko, weinte sich die Augen aus
und versuchte derweil, sich und ihr Kind in der Wildnis fernab der
dörflichen Gemeinschaft durchzubringen.
Im Winter 1586, zehn Jahre nachdem sie Staschko das letzte Mal umarmt
hatte, folgte sie ihm. Der greise Pastor Trögler wollte ihr ein
christliches Begräbnis verweigern. Als aber der Bischof in S.
mit der Faust auf den Tisch schlug, gab der geistliche Lumpenhund,
welcher der Senilität schon ein gutes Stück näher gerückt
war, klein bei und verscharrte die Hirtentochter an der eingefallenen
Südwestecke der Kirchhofsmauer. Bis auf die siebzehnjährige
Gertrud und einige der Dorfarmen gab niemand aus G. der "Welschen"
das letzte Geleit. So sahen nur wenige, welcher Art die Blicke waren,
mit denen der Pastor Trögler die Tochter der Heimgegangenen musterte.
Es waren dieselben, mit denen er schon seinerzeit die Mutter auszog.
Nur etwas Basiliskenhaftiges war hinzugekommen. Kurz nach dem Begräbnis
wurde die baufällige Friedhofsmauer ganz eingerissen und durch
einen Weidenflechtzaun ersetzt. Es schien niemandem aufzufallen, daß
der Zaun knapp vor dem Grab der Böttcherin entlanggeführt
wurde, wodurch es aussah, als sei diese nicht in geweihter Erde bestattet
worden.
Der Haß der Dörfler reichte weit und verzieh nicht, noch
vergaß er.
Gertrud Elisabeth Böttcher aber kehrte zurück in ihre Hütte.
Das Moor und der riesige Wald ernährten und schützen sie.
Was sie von ihren Eltern gelernt hatte, mußte nun reichen, denn
sonst hatte sie niemanden mehr auf der Welt.
Mehr noch als ihrer Mutter bereitete ihre Schönheit ihr die größten
Probleme. Von orientalischem Aussehen, mit schwarzen Haaren und den
mandelförmigen Augen ihres Vaters gesegnet, von schlanker Gestalt,
wurde sie die meistbegehrte und meistgehaßte Frau der Gegend.
Wir ahnen, wer sie begehrte, wir ahnen, wer sie haßte.
Die sie haßten, brachten schon bald das Gerücht auf, bei
der Böttcherschen könne es sich nur um eine Hexe handeln.
Wie sonst wäre man in der Lage, allen Männern den Kopf zu
verdrehen? Wie sonst hätte man so ein profundes Wissen über
Kräuter und Krankheiten ansammeln können? Wie sonst würde
man allein in einem so finsteren Wald überleben, in den man sich
schon bei Tageslicht nicht hineintraute, weil es darinnen nicht mit
rechten Dingen zuginge? Wie sonst könnte man so anders aussehen,
als alle anderen Mädchen im Dorf? Und war der Vater nicht auch
so ein Schwarzer gewesen, mit feurigen Augen? Sagte man nicht dem
Beelzebub so teuflische Verführungskünste nach, wie sie
der Staschko besessen hatte? So manches Mädel aus dem Dorfe hatte
von ihm geträumt und der Elisabeth die Pest an den Hals gewünscht,
als diese ihn in ihren Bann ziehen konnte. Auch die Töchter der
Großbauern hatten sich nach ihm verzehrt und waren darüber
bereit, selbst ihre gewohnte Hochnäsigkeit aufzugeben, wenn er
sie doch nur eines Blickes gewürdigt hätte. Wie gern würden
sie sich für ihn vergessen haben! Ja, von solch einer Macht über
das Weibsvolk träumten die plumpen Bauernlümmel. Das vermochte
doch nur der Böse selbst!
Und wo wir schon dabei sind: Wie oft waren denn der Welsche und seine
Elisabeth in der Kirche gewesen, die doch alle braven Dörfler
Sonntag für Sonntag besuchten?
Das Hurenkind einer Dirne und eines Höllenhundes, was sollte
das schon anderes sein als eine Hexe?
Und so kam es, daß im Laufe der Jahre, wenn von der einsamen
Frau im Walde hinter vorgehaltener Hand die Rede war, kaum jemand
mehr den Namen Gertrud Elisabeth Böttcher nannte. Man sprach
nur noch von der Hexe. Besonnenen Leuten war es zu danken, daß
Gertrud Elisabeth Böttcher nicht den unendlichen Denunziationen
zum Opfer fiel, die zu jener Zeit Abertausenden von unschuldigen Frauen
und Männern unter dem Vorwand der Hexerei ein gräßliches
Ende auf dem Scheiterhaufen brachten. Doch mehr als einmal mußte
sich die Frau ins nahegelegene Moor flüchten, in das zu folgen
ihr der besoffene Mob nicht wagte, wenn wieder einmal im Wirtshaus
von G. ein Lynchmord geplant wurde.
Manche kamen auch so zu ihr, heimlich, auf versteckten Pfaden, daß
es bloß niemand mitbekäme, nämlich wenn das Vieh erkrankt
war, oder den Knecht das Grimmen plagte, wenn das Korn schlecht stand
oder sich eine Dorftochter Hoffnung auf einen jungen Mann machte.
Verreckte das Vieh dann doch, verhagelte die Ernte, betrog der Galan
das liebeshungrige Fräulein – dann wurde das Gemurmel schon
lauter, daß die alte Hexe von boshafter Natur wäre. Am
Ende war sie es gar selbst, die dem Vieh die Seuche, dem Jäckel
das Grimmen und dem Halm den Hagel geschickt hatte. War es ein Zufall,
daß man oft bei ihrer Hütte den Schuhuh sah? Die unheimlichen
Augen des dreibeinigen Katers waren noch manchem in Erinnerung. Wenn
das mal nicht der Böse selbst war? Nein, das war er nicht. Er
war der Kater Moritz, dem ein Dorfköter mal ein Beinchen zerbissen
hatte und den die Gertrud zu sich nahm und gesund pflegte und liebte
und ihr Leben mit ihm teilte in Ermangelung anderer Gesellschaft.
Er war die Liebe selbst. Aber Menschen voller Bosheit waren nicht
bereit, das zu sehen. Ihnen mußte alles böse erscheinen,
denn sie waren es im Herzen selbst.
So verging die Zeit bis zu jenem unseligen Jahre 1618, als die habsburgischen
Statthalter Slawata und von Martinic aus einem Fenster der Prager
Burg gestürzt wurden. Der dreißig Jahre währende Krieg,
der daraus erwuchs, erreichte den Weiler erst viele Jahre später.
Zunächst einmal vermerkte der neue Pastor, Trögler war im
Jahre 1605 hochbetagt zur Hölle gefahren, im Kirchenbuch des
Sprengels die Geburt eines Knaben und eines Mädchens. Das waren
die Kinder des Kossäten Johann Christoph Scheller und seiner
ersten Frau Thekla. Getauft wurden sie auf die Namen Johannes Christoph
und Margarete Barbara. Doch rief man sie im Allgemeinen nur Hänsel
und Gretel.
Kurz nach der Geburt starb die Mutter der beiden. Sie wuchsen bei
einer Stiefmutter auf, die der Vater kurze Zeit später ins Haus
holte. Die Hartherzigkeit dieser Frau stach nicht sonderlich ab vom
Geist der Zeit. Der Vater war ein schwacher Kerl, ein Säufer,
der die Familie schlecht und recht mit Besenbinderei über die
Runden brachte.
Das ging so bis in den späten Herbst des Jahres 1629. Hans und
Grete waren zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt. Hinter ihnen lag eine
Kindheit, die keine war. Die Schläge der Stiefmutter, der permanente
Suff des Alten, die Sticheleien und die Prügel, die sie von den
Kindern der Großbauern täglich zu erdulden hatten, das
alles hatte sie nicht zu Engeln werden lassen. Verschlagen und vorsichtig
waren sie, ausgekochte kleine Überlebenskünstler, die ein
gutes Auge für ihren Vorteil hatten und stets erahnten, wo ihnen
neue Hiebe drohten.
Der Herbst 1629 schien einen strengen Winter anzukündigen. Die
Situation in dem Besenbinderhaus des Kossäten Scheller war sowieso
schon zum Zerreißen gespannt. Mehr Mißernten als gewöhnlich,
einige durchziehende und marodierende Söldnerhorden, die sich
einen feuchten Kehricht um die Religion der von ihnen heimgesuchten
Dörfler scherten – die große Teuerung, die Brotknappheit
– die Stiefmutter faßte den Plan, sich der unnützen
Fresser zu entledigen. Der Alte schrak zusammen. Nicht, daß
er die Rangen sonderlich liebte, aber den Tod am Galgen für Kindsmord
– den fürchtete er denn doch. Hier aber erwies sich die
Alte als gerissen: Warum nicht die Blagen in den herbstlichen Riesenwald
schicken? Man mußte nur dafür sorgen, daß sie sich
verliefen, Kälte, Hunger und wilde Tiere würden den Rest
besorgen. Kurz und gut: man drückte den Kindern zwei verschlissene
Kiepen in die Hände und beauftragte sie, sich nach Pilzen und
Beeren umzutun. "Und laßt euch hier ja nicht blicken, bevor
die Körbe nicht randvoll sind!" Groß waren die Kiepen,
es paßte eine Menge hinein, die Kinder mußten laufen,
weit mußten sie laufen, zu weit. Die Nacht brach an und sie
hatten Weg und Richtung verloren. Ein schwacher Lichtschein gab ihnen
im Waldesdunkel Hoffnung. Das Licht kam aus der Hütte der Gertrud
Elisabeth Böttcher, die zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre zählte.
Mit jedem Jahr fielen ihr die täglichen Verrichtungen schwerer.
Nur der Kater, ein Urenkel ihres Moritz, teilte ihr Leben, war ihr
aber keine nennenswerte Hilfe.
Es erschien ihr eine Fügung des Himmels, als die beiden abgemagerten
Kinder an ihre Tür klopften. Daß Kindesaussetzung in Notzeiten
bei Armen ein gewöhnliches Mittel war, das wußte sie. Genug
Lebenserfahrung hatte sie in ihren sechs Jahrzehnten gesammelt. Wenn
aber andere die Kinder nicht wollten – ihr könnten sie
eine Hilfe sein! Kindern kann man etwas beibringen und sie hatte viel
zu lehren. Kinder wachsen heran und werden je stärker, je schwächer
sie mit ihren Jahren wurde. Könnten das nicht die Enkel sein,
nach denen sie sich immer gesehnt hatte? So viele Gedanken schossen
ihr durch den Kopf. Ein starker Bursche, ein behendes Mädel.
Halfen sie ihr durch die beschwerlichen Jahre des Alters, so wollte
sie ihnen alles hinterlassen, was sie auf dieser Welt ihr eigen nannte.
Arme alte Frau. So lange warst du auf dieser Welt und hast von deinen
Mitmenschen soviel Übles erfahren! Doch die Hoffnung, diese mächtige
Fee, vernebelt sie nicht immer wieder den Verstand der Klügsten?
Und so ließ die alte Gertrud Elisabeth Böttcher ihre zukünftigen
Mörder ins Haus, ihnen gleichsam das Leben rettend. Ein Feuer
zum Aufwärmen, eine Suppe gegen den Hunger – und während
sich die Kinder gierig über die Suppe der guten Alten hermachten,
schwafelte diese schon von ihren Träumen.
Da aber war sie an der rechten Adresse! Lernen, arbeiten? War die
Alte verrückt geworden? Wer war die denn, daß sie solches
Ansinnen vorbrachte! Sie war eine Ausgestoßene, eine Hexe, eine,
auf die alle vom Dorfe spuckten. Nicht einmal zwingen konnte die Hexe
die Kinder: Dazu war sie zu alt und zu schwach.
Doch Moment! Was erzählte sie da gerade von "allem, was
ich besitze"? Da bekamen die Gören große Ohren. Das
mußte schneller gehen. Gretel hatte die Idee. Sie war so plump
wie effektiv. Während Gretel die halbblinde und fast ertaubte
alte Frau ablenkte und Interesse heuchelte, drosch ihr Bruder mit
der Brotschaufel von hinten auf den Schädel der Greisin. Frau
Gertrud stöhnte auf und rutschte von ihrem Schemel. Klaffend
trat ihr das Blut aus Schädel, Ohren, Nase und Mund.
Auf dem Lehmboden der Hütte lag zerschmettert ein Mensch, die
Frucht einer einst großen Liebe zwischen der Elisabeth Böttcher
und ihrem Staschko. Betreten sah sich das Mörderpärchen
an. Dann verfiel der kleine Halunke in einen wahren Blutrausch. Immer
wieder trat er der Sterbenden in den Bauch und ins Gesicht: "Da
hatt du, verruchte Hex', Teufelsbraten, Satansliebchen,..." und
was er an Verwünschungen mehr aufgeschnappt hatte. Kurze Zeit
später hatte die Gertrud Elisabeth Böttcher ihr armes, einsames
Leben an ihren Gott zurückgegeben, der sie so unverschuldet,
verräterisch und bitter im Stich gelassen hatte.
Vor Angst halb irr fauchte der Kater. Gretel warf einen Stein nach
ihm: "Heb dich fort, Höllenbiest!" Das Tier entfloh.
Die Kinder wußten nun, wo sie sich befanden. Die Hexenhütte
war ja weit bekannt. Auf dem Nachhauseweg, bepackt mit den Habseligkeiten
der Erschlagenen, bastelten sie schon an ihrer Geschichte, die sie
vor Rad und Galgen retten sollte.
Bereitwilligst wurde das Lügengebräu über die Geschehnisse
von den Dörflern aufgenommen. Zu verhaßt war die Gertrud
Elisabeth Böttcher den Leuten gewesen. Und zu viele Leute hatten
ihre Schulden bei der alten Frau nie bezahlt. Doch ein Kommissär
aus der Residenz nahm sich der Sache an. Hänsel zog es vor, aus
dem Dorfe zu verschwinden, ehe ihn der Büttel greifen konnte
und schloß sich einer durchziehenden Söldnerhorde an. Ein
walachischer Obrist nahm ihn als Troßbuben in seine Kompanie,
zum Dank dafür, daß ihm Hänsel anvertraute, wo der
Alte seine Notgroschen vergraben hatte. Das ersparte dem alten Vater
wenigstens eine längere Folter. Die Ziege hatte ihm die gesalzten
Fußsohlen abgeleckt und der Alte wollte sich schon totlachen,
als ein besonders witziger Landsknecht auf den Einfall kam, den Kossäten
Johann Christoph Scheller auf einem angespitzten Pfahl Platz nehmen
zu lassen. Das Holz, das mit aller Gewalt dem Manne dort eindrang,
wo er sich eigentlich seiner Notdurft entledigte, endigte sein Leben
in Minuten.
Nicht ganz so gut hatte es die Stiefmutter, die – in ihren besten
Jahren stehend – vom halben Regimente bis zur Ohnmacht vergewaltigt
wurde. Irgendwann verdrehte sie jämmerlich die Augen, brüllte
vor Schmerzen und erbrach sich unter einem Sergeanten. Angewidert
ließ dieser von ihr ab und drosch der geschändeten Frau
unter einem wilden Fluch, begleitet vom johlenden Gelächter seiner
Kameraden, eine Mistforke in den Bauch. Die Forke brach am Stiel ab,
was das Höllengesindel zu weiteren höhnischen Bemerkungen
veranlaßte. Die Frau krümmte sich um den Holzstumpf und
verschied qualvoll. Die Gretel brauchte nur zwei Landsknechte über
sich erdulden, die ihr die Jungfernschaft nahmen. Sie quiekte wie
ein angestochenes Ferkel. Dann wurde sie von einem Feldwaibel aus
ihrer mißlichen Situation zunächst befreit, indem dieser
mit zwei wuchtigen Faustschlägen das Gelichter von dem Mädchen
herunterprügelte. Der Waibel verkündete, daß er beabsichtige,
„sich eyn neue Hur zuzulegen, die alte hätt nit mehr alle
Zähne im Maul, woraus sie auch förchtelich stinke.“
Auch er erntete dröhnendes Gelächter. Dann fiel er über
die Elfjährige her. Von ihm bekam die Gretel zum Einstand die
Syphilis, an der sie sechs Jahre später in einem böhmischen
Wald elend verreckte. Zuvor wurde sie als abgetakelte Regimentshure
nackt und unter großem Gelächter aus dem Feldlager gepeitscht.
Nur einen Monat später geriet die walachische Kompanie in einen
Hinterhalt geplünderter Bauern und wurde vollständig zerrieben.
Dem Johannes Christoph Scheller, genannt Hänsel, wurde ein Strick
um den Hals geworfen und seine sterbliche Hülle am Ast einer
gewaltigen Ulme heraufgezogen, bis er seine Zunge herausstreckte und
wild mit den Beinen um sich schlug, an denen ihm Kot und Urin herabliefen.
Na, Kinder, gefällt euch das auch? Das ist kein Märchen
– das ist die Wahrheit! Die nackte Wahrheit, so nackt, wie der
geschundene Leib der syphilitischen Gretel, als ihn die Füchse
fraßen. Das ist die Wahrheit über Menschen, die man von
der Leine gelassen hat und die keinem Gesetz und keiner Moral mehr
folgen. Das ist die Wahrheit, wie sie uns jeder Krieg und jedes Pogrom
vor Augen führen, mit denen sich „die Krone“ von
Gottes Schöpfung seit Anbeginn der Welt bedachte. So geht es
wirklich zu. Aber das will keiner wissen. Am Wenigsten die, die dafür
verantwortlich sind.
Bei jener Heimsuchung des Dorfes G. übrigens löschte der
Tod alle Standesunterschiede aus. Die Knechte und Mägde wurden
gleichermaßen geschunden wie die Großbauern, der Schultheiß
und der anständige Nachfolger des verkommenen Pastors Trögler.
Den jungen Geistlichen fand man vor seiner Kanzel. Man hatte ihm mit
einer Petrusfigur vom Altar die Knochen einzeln zerbrochen, weil er
das Versteck der wenigen Habseligkeiten nicht preisgeben wollte, welche
die Kirche von G. besaß. Tot waren alle vom Pulcken-Hof. Überlebt
hatte vom ganzen Dorfe nur der alte Valentin Kramer mit seiner zwölfjährigen
Enkelin Ursel. Justament in die ihm bekannte Hütte seiner Jugendfreundin
Gertrud Elisabeth Böttcher war der Stellmacher des Dorfes geflüchtet,
er, der über die Trude nie ein schlechtes Wort verloren hatte
und der ihr alles auf Heller und Pfennig zahlte, was sie je für
ihn tat. Ja, der ihr so manches Mal heimlich etwas zukommen ließ
– ihre Hütte schützte nun ihn. Denn die Gegend war
bei der Bevölkerung so verrufen, daß sich nicht einmal
die verrohtesten Landsknechte dorthin wagten.
So überstand er die furchtbare Zeit, während das Dorf G.
einige Jahre wüst daniederlag. Irgendwann, es muß um 1650
gewesen sein, siedelten sich neue Leute an. Der alte Valentin, der
just sein achtzigstes Jahr vollendet hatte, sah vom Waldrand auf das
neu entstehende Dorf, faßte seine Enkelin bei der Hand und sagte
leise: „Urschele, dat seyndt niege Lüd, aber du wirst seihn
– hüür, wat ick di seggen tu: dat seyndt doch die
ollen! Dat seyndt ümmer dieselben. Die Lüd wiern nie anners
wiern.“* Über die runzlige Haut seines stoppelbärtigen
Kinns aber rann eine Träne.
*Plattdüütsch,
"Urselchen, das sind neue Leute, aber Du wirst sehen - höre,
was ich Dir sage: das sind doch die alten! Das sind immer dieselben.
Die Leute werden nie anders werden."