Baaks

zurück zum Landboten

 

Inimicus inter muros
oder die blinde Frau auf der Brücke

B. St. Fjøllfross
Matthias Claudius, über den mein verehrter Herr Kollege Druckepennig zeitgleich schreibt, wandte sich an seinen Sohn Johannes mit den Worten:"...Sie meinen auch, daß sie die Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden. Das ist aber nicht, Sohn. Man hat darum die Sache nicht, daß man davon reden kann und davon redet..."


Diese Mahnung trifft uns ins Herz und wir sind versucht, sie als Motto in unserer Redaktionsstube auszuhängen. Unser unseliger Ladenschwengel mußte die Evidenz dieser Worte am eigenen Leibe erfahren. Er ist ja so kein schlechter Kerl, der Lehrling. Und leidlich begabt ist er auch. Mitunter lassen wir ihn schon mal zur Feder greifen. Dann legt er los. Dann stürmt er vor: ein Ritter, gewappnet in strahlender Rüstung, gegürtet mit dem Schwerte Gottes. Dann drischt er ein auf den allmächtigen Erzfeind – die finstere Mikrobe der menschlichen Dummheit. Ein würdiger Lehrling des Landboten! Versteht sich der Landbote doch als Vorposten, als Festung in diesem aussichtlosen Kampf gegen diesen furchtbaren Gegner. Sind wir aber darum gefeit gegen den Feind? Macht unser Kampf, unser Ziel uns schon zur Gralsburg Montsalväsch? Sind wir immun? Oder sind wir nicht vielmehr ähnlicher den tragischen Vesten Montsegur und Massada, die am Ende der Übermacht erlagen? Diese Frage ohne Selbstbetrug zu klären, ist geradezu essentiell für einen guten Soldaten. Na, sehen wir mal, ob sich der Feind schon eine Bresche geschlagen hat durch unsere Mauern:


Ein wunderschöner, lichtblauer Herbsttag. Unser Jungritter eilt auf seinem Stahlroß durch die märkischen Wälder auf die Redaktion zu. Er kommt vom Brandenburger Hauptbahnhof. Die Route, die er wählt, mißt etwa drei preußische Meilen. Das sind beinahe 23 Kilometer. Ein günstiger Ost bläst ihm unterstützend in den Rücken. Der Weg ist ausgezeichnet und beinahe menschenleer. Er fliegt nur so dahin. Als er das Dorf Kirchmöser hinter sich läßt, sieht er auf die Uhr. Excellent! Wenn nichts mehr dazwischen kommt, könnte er es unter einer dreiviertel Stunde schaffen. Rekordverdächtig. Die alten Zausels in der Redaktion würden Augen machen. Ja, der Bursche hat richtig Bums in den Knochen!


Am Obelisken saust er vorbei, der den Beginn des letzten Kilometers markiert. Jetzt nur noch über die Seegartenbrücke, dann sind's noch achthundert Meter. Sieht gut aus.


Nee, sieht es nicht! Die Seegartenbrücke wird derzeit neu gebaut. Die Behelfszufahrt ist ein Nadelöhr, in dem kaum zwei Fußgänger aneinander vorbeikommen. Velozipedisten werden aufgefordert, abzusteigen und den Drahtesel zu schieben. Zwanzig Meter nur, auf beiden Brückenköpfen. Doch das kostet wertvolle Sekunden. Wer macht das schon! Die alte Frau, die ihren Drahtesel gerade in den Schlauch hineindirigiert, die macht das. Unser Fritze stöhnt auf. Himmelherrgottsakrament! Es ist kein Vorbeikommen. Er bedenkt die Frau mit einigen hingemurmelten Flüchen und Verwünschungen. Da – sie ist durch! Nun aber beiseite und Platz gemacht! Hurtig! Nein, wieder nicht – umständlich hantiert die alte Frau erst mit ihrem Gefährt.


Es ist zum Weichwerden! Mit einem Mal scheint sie des Burschen Anwesenheit zu registrieren. Erschrocken dreht sie sich um. Und jetzt kommt's! Ist das die Stimme Gottes aus dem Wettersturm? Ist das Bastet, Urd, Gna, Pallas Athene, gar die Urmutter selbst, die da zu ihm spricht im Namen des Verstandes: "Entschuldigen Sie bitte, junger Mann! Ich habe Sie nicht gesehen. Ich habe doch nur ein Auge. Verzeihen Sie!"


Der saß! Aufgewacht, Fritze? Mit einem einzigen, leise und freundlich gesprochenen Satz war der strahlende Glanz der Rüstung des Ritters im Dienste der Dame Prudentia dahin. Verbeult saß er jetzt da, wie ein begossener Pudel, die schimmernde Wehr nur noch ein schartiger Prügel. Was zählen jetzt noch die Sekunden? Hast du nicht selbst mit der Feder gewettert gegen die hirnlosen Raser? Hast du nicht gefragt, was sie anfangen mit den so riskant herausgeschundenen Sekunden? Was an dieser kurzen Zeit so wertvoll ist, daß man um ihretwillen Leib und Leben aufs Spiel setzt? Und jetzt erschrickst du selbst eine alte, halbblinde Frau um eines lächerlichen Zieles willen, die sich noch dazu völlig korrekt verhielt?


Die Mikrobe der menschlichen Dummheit, der gnadenlose Todfeind eines jeden Landboten, hatte in unserem Moses eine mächtige Bresche geschlagen. Die alte Frau fluchte nicht. Sie entschuldigte sich bar jeder Ironie. Damit hatte sie – vielleicht unbewußt – die Eichel-Sau*, das Kreuz As auf französisch ..., ausgespielt. Unser Fritze wäre kein echter Landbote gewesen, wenn er die Botschaft des Augenblicks nicht ad hoc begriffen hätte.


Tiefrote Scham! Doch dabei darf man es nicht bewenden lassen. In sich gehen, besser machen – das ist das zwingende Gebot.


Wir sind nicht immun. Keiner von uns. Es wäre die größte Dummheit, diesem Irrtum zu verfallen. Die Schwachstelle muß benannt werden, der Feind wird zurückgeschlagen, die Mauer geflickt und verstärkt. Und dann bereiten wir die nächste Offensive vor! Eins in die Fresse tut weh, aber es bringt uns nicht um. Uns macht es stärker. Wichtig ist nur, daß man diesen lebenslangen Kampf mit wachem Verstand führt, bar jeden Selbstbetrugs, bar jeder Schönfärberei – aber auch bar jeder Selbstzerfleischung. Jede Niederlage birgt auch den Keim eines zukünftigen Sieges in sich. Und das soll uns auf unserem Posten halten, treu und fest. Deus lo vult!**

 

* mächtige Spielkarte im deutschen Skat-Blatt
** Gott will es!

7. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005