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Arte stolpert ins Mittelalter

J.-F. S. Lemarcou
Doku-Soap – so nennt sich der Nonsens doch wohl, der da seit geraumer Zeit bei den Fernsehkanälen durchgereicht wird. Da trommelt man also ein paar Leute zusammen, die für einige Tage oder Wochen in eine „andere Epoche“ geschickt werden, um dem Zuschauer vorzuführen, unter welchen Bedingungen seine Voreltern seinerzeit lebten. Der Grundgedanke ist ja ganz löblich. Funktionieren kann die Chose dennoch nicht. Warum? Nun, man kann den Leuten zwar die alten Klamotten überhelfen, man kann ihnen Strom und Gas abschalten und sie mit Werkzeugen des täglichen Gebrauchs ausstatten, wie sie damals üblich waren, aber eines können die Produzenten dieser Streifen mit Sicherheit nicht: Es ist ihnen unmöglich, ihren Darstellern die Hirne und Herzen ihrer Altvorderen zu implantieren. Das gesamte Weltbild, mit dem unsere Ahnen aufwuchsen, prägte ihren Umgang miteinander und damit das soziale Gefüge entscheidend. Es reicht nicht zu sagen: „Du bist jetzt Gutsbesitzer, und du bist Hausmagd, du bist ab sofort adliger Burgvoigt und du bist Stallknecht.“ Das kann man spielen und heraus kommt bestenfalls so eine Art Hollywood’sches Sandalenepos der Fünfziger. Denn die Menschen der vergangenen Epochen hatten zutiefst innerlich ein anderes Verständnis von sich selbst, ihrer Stellung innerhalb der Welt und vor Gott. Ihr Horizont war auf der einen Seite um Dimensionen eingeengter als der unsrige, auf der anderen Seite nahmen sie Dinge war, die sich uns nicht mal mehr mit dem Mikroskop erschließen.
Diese Verwerfungen lassen sich nicht von unausgebildeten Laientruppen korrigieren. Selbst das jüngste Kreuzfahrerepos „Himmelreich auf Erden“ mit Orlando Bloom konnte nicht über diesen Schatten springen und ist im Endeffekt nichts anders als eine Reflektionsfläche, ein Spiegel unserer Zeit, der unter einer sicher gelungenen Maskerade genau die Probleme, Sehnsüchte, Moralvorstellungen und Weltsichten unserer Gegenwart an den Betrachter zurückgibt.
Unter demselben Aspekt nun muß man zwingend die Doku-Soaps sehen, die einen ähnlichen Anspruch vor sich her tragen.
Es gibt aber noch einen zweiten, etwas hintergründigeren Blickwinkel, den wir an dieser Stelle einmal ausleuchten wollen: Warum werden wir gerade zu dieser Zeit wirtschaftlichen Rückzugs mit solchen Stoffen bombardiert, die uns das Leben ohne den gewohnten Komfort unserer Gegenwart schildern sollen? Soll uns vor Augen geführt werden, daß es auch mal ohne Strom und Fernseher ging? Sollen wir uns wieder langsam dran gewöhnen? Nun hatte die alte Zeit auch ihre Schattenseiten. Einen Arzt beispielsweise konnten sich nur die wirklich Betuchten leisten. Parallel zur Doku-Soap findet im realen Leben eine Entwicklung zu just eben diesem Punkte wiederum statt. Wer nicht zahlen kann, stirbt früher. Mit den Annehmlichkeiten von Strom, Gas, fließend Wasser und einer beheizten Unterkunft samt Dach über dem Kopf wird es über kurz oder lang ähnlich gehen. Die Zahl derer, die sich diesen Luxus nicht mehr werden leisten können, nimmt enorm zu! Da hätten wir dann eine Live-Soap, die für die Betroffenen kein Fernsehspektakel mehr ist, sondern brutal am eigenen Leibe erfahren wird. In diesen Kontext paßt wohl die moderne Ausgabe der Jaquerie, die wir vor erst wenigen Tagen, im November 2005, auf den Straßen Frankreichs erlebten. Solche Unruhen der Armen und Verarmten werden sich wohl häufen in nächster Zeit. Und daß man diese Rebellen Lumpengesindel und Verbrecher heißt, wie es der französische Herr Innenminister Monsieur Sarkozy uns vorexerzierte, das hatten wir doch auch schon mal, nicht wahr, Herr Dr. Martin Luther aus Wittenberg?
Und nun noch einmal die gestellte Frage: Soll uns dieser konzentrierte mediale Beschuß mit dem mittelmäßig in Szene gesetzten Ambiente der Vergangenheit vielleicht doch ein Stück weit auf eine Zukunft vorbereiten, die der vorgestellten Historie in vielem ähneln wird?
Na dann, in diesem Sinne: Kyrie Eleison!

7. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005