Rechtsgüterabwägung
oder wie das Grundgesetz die Nummer 211 der Grimm'schen
Kinder- und Hausmärchen anpeilt
Don M. Barbagrigia
Ein System ist – das lehrt die
Geschichte – spätestens dann zum Scheitern verurteilt, wenn seine Träger
das Lügen anfangen. Die Kommunisten begannen beinahe mit der ersten
Sekunde ihrer Machtergreifung die Wahrheit im Sinne ihrer Ideologie
mit Füßen zu treten. Doch mit der freiheitlichen Grundordnung ist es
nicht viel besser bestellt. Da schreiben die Mütter und Väter des Grundgesetzes
in Artikel 3 Abs. 1 GG: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Wäre
das so, dann hätte ein Altbundeskanzler Kohl zur Erzwingungshaft hinter
Gitter gehört. Er blieb unangetastet. Ein klarer Fall von Rechtsbeugung
zu Lasten der Glaubwürdigkeit des Systems.
Doch ist das nur die Spitze des Eisbergs. Bleib du deiner Kommune das
Strafgeld schuldig, was du für die Überziehung der Parkzeit zahlen sollst,
treib's auf die Spitze, weigere dich, bleib standhaft – sie werden kommen
und dich einbuchten! Gnadenlos! Füge einer Privatperson einen finanziellen
Schaden zu, der privatrechtlich eingeklagt wird – na und? Der hat am
Ende vielleicht seinen Titel und du, wenn du dich einigermaßen geschickt
anstellst, hast deine Ruhe.
Na gut, sagen wir, du als Geschädigter machst den Verursacher deines
Schadens nach dem Prinzip der Verschuldenshaftung wirklich dingfest,
hast ihm beim Haken, lässt ihn blechen... Wie schön, sagst du dir. Der
Rechtsstaat funktioniert. Warte mal, bis dir eine Behörde unnötige Lauferei
und Korrespondenz auflädt. Inkompetenz, Schludrigkeit, Fahrlässigkeit
– du opferst Zeit und Geld und Lebensfreude. Ran an den Speck! Fass'
sie beim Kragen, schüttle sie durch, bis die Groschen rausfallen und
vor deinen Füßen klimpern. Du lachst? Wir auch!
Man kriegt sie nicht. Du wedelst mit dem Grundgesetz unter ihren bornierten
Nasen, erklärst, dass das Grundgesetz jedes nachfolgende Gesetz bricht
und keine noch so popelige Verordnung dem klaren Geist der Verfassung
widersprechen darf und – sie glotzen dich verständnislos an und donnern
dir ihre Behördentüre vor der Nase zu. Das bleibt für sie ohne Folgen.
Verlass dich drauf. Das System, dass dir als seinem Bürger eine Gleichstellung
vor dem Gesetz versprach, hat dich belogen. Doch das ist denen Märchen
immanent! Übrigens: Im System der Gimm'schen Kinder- und Hausmärchen
KHM wäre nach der Nummer 201 „Die Haselrute“ noch Platz für eine Erweiterung
und das Grundgesetz machte nach Form und Inhalt betrachtet in diesem
Kanon fürwahr eine gute Figur.
Die Justiz lässt Dich
im Regen stehen. Rechtsgüterabwägung nennt sich das dann. Was ein höheres
und daher schützenswerteres Rechtsgut ist – das aber entscheidest nicht
du! Du nicht! Und du wirst baldigst erkennen, dass das Gesetz nicht
ursächlich zu deinem Schutze ersonnen wurde, wie du seit den naiven
Tagen deiner Kindheit geglaubt haben mochtest. Es soll sie schützen
– sie, welche die Macht haben, sich von einem Gesetz schützen zu lassen.
Du knirscht mit den
Zähnen? Musst du nicht! Dir bleibt doch ein schaler Trost: Jedes System,
das mit dem Lügen anfängt, trägt den Keim seiner Abschaffung bereits
in sich. Was den Trost schal werden lässt? Dass hinterher, nach dem
Systemwechsel, unter neuen Farben wieder wacker in den alten Gleisen
gefahren wird! Wenigstens darauf gibt es eine Garantie.