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Gute
Wege – nichts dahinter!
Bundesverkehrsminister Ramsauer zieht die „Notbremse“ Jules-Francois S. Lemarcou Derweil hatten sich im Westen die Verhältnisse umgekehrt. Zugunsten der Restaurierung und Ertüchtigung ostdeutscher Verkehrsverhältnisse wurden der Erhalt und die Instandsetzung westdeutscher Verkehrswege über die zwei Jahrzehnte nach der Wende massiv vernachlässigt. Stöhnte der Wessi früher, wenn er den armen Verwandten im Osten besuchte, so ruft heute der ostdeutsche Familienvater, wenn er die alte Demarkationslinie bei Schlutup, Marienborn oder Rudolphstein gen Sonnenuntergang überfährt: „Kinder! Festhalten, wir sind im Westen!“ Wenn es nur um die Verkehrswege ginge! Doch seit geraumer Zeit entfachen auch viele westdeutsche Kommunen einen Sturm im Wasserglas, weil früher vergraute und verfallene Gemeinden zwischen Arkona und dem Erzgebirge wie pittoreske Puppenstübchen erblühen, die ehemals reichen Städte Westdeutschlands nunmehr hingegen peu a peu vergammeln und verrotten. Und da ist es wieder: Das Klischee vom faulen Ossi, dem man Zuckerwasser ins Gedärm blasen kann und der dennoch zu dumm und zu träge ist, etwas Gescheites daraus zu machen. Nun wäre es doch endlich an der Zeit, diesen Trotteln den Geldhahn abzudrehen. Ist das so? Viel scheint dran zu sein an dieser Wahrnehmung. Besieht man sich beispielsweise die Chur- und Hauptstadt der Mark Brandenburg an der Havel, so stellt man fest, dass die Innenstadt über weite Strecke der Tod jedes Rennrads ist und auch Fußgänger oder die Federung der Automobile ihre ernsten Probleme mit dem Pflaster haben. Auf dem Gelände des alten Stahlwerkes aber und nördlich des Arado-Flugfelds liegen Straßen mit feinstem Bitumen, die ins Nirgendwo führen. Alle für eine Erschließung notwendigen Medien sind installiert und – ungenutzt. In den Fugen der Bürgersteige erobert sich das Gras seinen Lebensraum zurück. Die einst erschlossenen Gewerbeflächen erinnern mittlerweile wieder an schützenswerte Biotope. Westlich der Havelmetropole liegt ein 15 km langes Teilstück der L96 in der Landschaft, das für 150 Millionen Euro erbaut wurde und nun mit bösem Sarkasmus Deutschlands teuerste Fahrschulstrecke genannt wird. Einst sollte diese Straße die B102 zwischen Rathenow und Brandenburg an der Havel entlasten und Rathenow an die Autobahn A2 anschließen. Auch Premnitz und der Industriestandort Brandenburg-Kirchmöser hätte davon profitiert. Pustekuchen. Da liegt der Mittelteil eines Verkehrswegeprojekts ohne seine erforderliche Nord- oder Südverlängerung, an die doch seine Funktionalität zwingen gebunden ist. Das Geld, das dort sinnlos verbraten wurde, denn mittlerweile wurde diese Trasse endgültig zu den Akten gelegt, hätte den Brandenburgern einen Auto-Tunnel unter die Bahnhofsplatte oder den so dringend benötigten Neuanschluss der Bundesstraße 1 über den Bahnübergang Wust beschert. Wer im Westen davon Kenntnis erlangt, schüttelt entgeistert den Kopf: „Ich sag's ja: die Ossis...!“ Aber ganz so ist es denn doch nicht. Wer diese von offensichtlich viel gutem Willen getragenen Fehlinvestitionen sieht, wer sie in den Kontext der großen Brandenburger Pleiten und Pannen stellt, wie den Lausitz-Ring, die Chipfabrik Frankfurt/Oder, die Zeppelin-Halle bei Brandt, den entwidmeten Verkehrsflughafen Brandenburg-Briest..., der sollte tunlichst auch die Hintergründe dieser fatalen Entwicklung mit ihrer Fehlsteuerung beleuchten. Und dort zeichnet sich eindeutig ab, dass der so vorbildlich aufgebaute Osten im Prinzip eigentlich nur einer Sache ermangelt – die aber ist entscheidend: Von Anfang an träumten nur Idealisten davon, dass dem Osten jemals die Chance zuteil würde, sich als nennenswerter Primärproduzent zu profilieren. Deshalb all die erschlossenen Brachen. Deshalb die wunderbaren Straßen ins Nirgendwo. Deshalb die unvollendet gebliebenen Zubringer. Nach der Wende war das Gebiet der DDR ein einziger Spekulationsrummel, über dessen Umweg die Bundesrepublik unter Kohl ihren Glücksrittern und Wirtschaftshasardeuren Milliarden und Abermilliarden deutscher Steuergelder in den Rachen schaufelte. Diese raubten die DDR-Betriebe mit Hilfe der Treuhand aus, sicherten sich Filetgrundstücke zu Ramschpreisen, schafften sich durch die gezielt angestrebte Insolvenz der aufgekauften Produktionsstätten lästige Konkurrenz vom Halse. Eine Neuansiedlung produzierender Industrie erfolgte vergleichsweise nur im geringen Maße. Das war auch von Anfang an gar nicht gewollt. Und so entstand ein Paradoxon, für das man jetzt in ganz Deutschland eine hohe Zeche zahlt. Nachdem nun der große Raubzug vorüber ist, stellt man in Westdeutschland entgeistert fest, dass dort, wo man die Primär- und Großproduzenten in einem Akt beispielloser Arroganz und Dummheit ausschließich belassen wollte, die so dringend benötigte Verkehrsinfrastruktur kollabiert, während sie in einem vorbildlichen Zustande im Osten durch eine industrielle Steppenlandschaft zieht. Dem Druck und einer fatalen Logik folgend, kippt nun Bundesverkehrsminister Ramsauer die Finanzierungsanteile rigoros. Das Finanzierungsaufkommen für den Ausbau und Erhalt des Verkehrswegenetzes bleibt ab sofort zu 80% in der alten Bundesrepublik. Im Osten wurde ja schließlich genug getan. Da die Sache aber nicht zu Ende gedacht wurde, wird der Osten noch ein wenig von dem Geschaffenen zehren und dann wieder – wenn die Mittel zum Bewahren dieser hochmodernen Infrastruktur nicht mehr ausreichen – in die alte desolate Lage zurück rutschen. Spätestens wird sich das Dauer-Alimentierungsproblem, dass sich der Westen mit seiner Gier und seinem irrsinnigen Glauben an die freien und nicht zu reglementierenden Kräfte des Marktes selbst schuf, potenzieren. Der Osten wird zum Sizilien Deutschlands. Der richtige Weg wäre, den Osten nicht länger als verlängerte Werkbank des Westens zu diskriminieren und ihm endlich faire Chancen gegenüber dem alten Westen einzuräumen. Mit der vorhandenen Infrastruktur und dem Arbeitswillen des Ostens könnte sich extensiv eine Unternehmenslandschaft etablieren, die nach einiger Zeit in der Lage wäre, die klug, visionär und vorausschauend getätigten Investitionen mit Zins und Zinseszins zu begleichen. Spätestens dann könnten die jetzt jämmerlich dastehenden Städte Westdeutschlands mit frischem Geld aus dem Osten an die Sanierung ihrer Gemeinden gehen. Es wäre eine klassische win-win-situation. Diese aber würde eines erfordern: Den Verzicht auf eine von Gier und Arroganz geprägte Kurzsichtigkeit, den Verzicht auf dümmliche Stammtischpolemik und stattdessen politischen und ökonomischen Weitblick. Tja – aber wie, wenn der westdeutsche Michel doch die Zipfelmütze nicht von den Ohren bekommt! |
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B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009 26.05.2013 |