Zwei
Gesichter einer Wahl
Beginnt Europa zu wanken?
Michael
L. Hübner
Beinahe fünfzig Prozent Wahlbeteiligung zur Bestimmung der Zusammensetzung
des neuen europäischen Parlaments! Soll man sich freuen? Eigentlich
ja. Aber... Es liegt ein ernster Schatten auf dieser Wahl. Europafeindliche
Kräfte, ganz vorne der profaschistische Franc National haben enorme
Erfolge erzielt. Selbst die Dänen, die nicht gerade als abgeschlossen
und fremdenfeindlich gelten, taten sich mit einer erstarkten extremen
Rechten hervor. Von England ist man schon nichts anderes mehr gewohnt,
als die alten isolationistischen Hassgesänge auf den Kontinent. Droht
Europa nach nur wenigen Jahren wieder zu zerbrechen?
Es ist ja nicht so, dass alle Wähler dieser Parteien und Strömungen
grundsätzlich derselben Ansicht sind, wie die Demagogen, bei denen sie
ihr Kreuzchen machten. Wäre das so, die Rechtsextremen und Nationalisten
würden auch bei den Wahlen nationaler Volksvertretungen eine weitaus
größere Rolle spielen. Tun sie aber nicht.
Vielmehr dokumentiert sich der Unwille vieler Europäer über eine ihnen
ebenso ferne wie fremde, in ihr Leben eingreifende, sie bestimmende
Brüsseler Bürokratie. Die Mehrheit will nicht zurück in die finsteren
Zeiten des Beantragens von Visa für den Urlaubsort, das Schlangestehen
an den Grenzen, den lästigen Währungsumtausch mit all seinen teuren
Stolperfallen und Betrugsmöglichkeiten, das Nicht-vergleichen-können
der Preise, das langsame Verschwinden in die Bedeutungslosigkeit gegenüber
den globalen Wirtschaftsblöcken der Neuzeit.
Gerade krisengebeutelte Europäer wollen nur nicht mehr von unsinnigen
Anordnungen aus Brüssel und Straßburg gegängelt werden. Das spielt den
ewig Gestrigen in die Hände. Zur Wandlung unfähige Steinzeitler, die
Angst vor einer Neugestaltung der Zukunft haben und schüren, kramen
Urgroßvaters Ressentiments gegen "die Anderen" aus der verstaubten
Schublade hervor, um eigenes Versagen und das Fehlen tragfähiger Konzepte
wieder einmal dem Nachbarn jenseits irgend einer Grenze anlasten zu
können.
Wer Europa die Unterstützung versagt, oder antieuropäische Kräfte wählt,
der möge nach Verdun pilgern – denn dort, in diesen mörderischen Schützengräben,
gestaltet sich dann die Zukunft seiner Kinder. Einhundert Jahre nach
Verdun sollte man meinen, die Europäer wären wenigsten um ein Jota vernünftiger
geworden! Wenn Europa scheitern sollte, werden kommende Generationen
die wenigen Jahre seiner Existenz als die Goldene Epoche beschreiben.
Vertan, verjubelt und verspielt – von beiden Seiten: von Brüssel sowohl,
als auch vom europäischen Wähler!