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Tödliche Schüsse im Arbeitsamt

arbeitslose Frankfurterin von Polizistin nieder gestreckt

J. -F. S. Lemarcou

Eine der unseligsten dinglischen Vokabeln des offiziellen Deutschland lautet "Jobcenter". Allerdings erscheint dieses Wortmonstrum berechtigt - denn es wäre verfehlt, es mit Berufszentrum zu übersetzen. Hier werden Arbeitslose kaum in Berufe vermittelt, sondern besten- oder schlimmstenfalls mit "Jobs" bedacht. Job - das ist in der allgemeinen deutschen Adaption dieses englischen Wortes kaum mehr als eine kurzfristige, unterbezahlte Tätigkeit, die selten dazu ausreicht, den eigenen Lebensunterhalt zu garantieren.

Die Betroffenen, insofern sie keine gerissenen Parasiten sind, oder solche, die sich durch Schwarzarbeit ein geradezu fürstliches Einkommen sichern, wobei die Hartz-IV-Ergänzungsleistungen gerade mal das Zubrot darstellen, sind in aller Regel arme Teufel. Sie knaspern tagtäglich am Nötigsten, drehen jeden Cent dreimal um, ehe sie ihn ausgeben, schieben Rechnungen und Mahnungen vor sich her und sehnen den nächsten Zahltag herbei um das Gröbste zu bezahlen, was bislang aufgelaufen ist. Mit den Gören gibt es Krach, weil die in der Schule Klamotten aus der örtlichen Kleiderkammer auftragen und dabei ertragen müssen, Zielscheibe des ebenso grausamen wie idiotischen Spotts ihrer bessergestellten Mitschüler zu sein. Dabei sieht die ganze Sippe am Abend im Fernseher, welche Verlockungen, welchen Luxus das Land für die bereithält, welche das Geld haben.

Nun ist es in aller Regel so, dass die Armut dieser sozial Randständigen noch lange nicht vergleichbar ist mit dem Elend, dass die hungernden Neger, Indios und Kulis der Dritten Welt zu ertragen haben, die nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überstehen sollen. Selbst eine vom deutschen Sozialamt finanzierte Wohnung ist purer Wohlstand, gemessen an den Favelas von Nairobi und Sao Paulo. Dennoch – das subjektive Empfinden der Menschen vor den Schaltern der "Jobcenter" lässt sich nicht beschönigen – es ist so desolat wie das jeden in Armut Geratenen.

Die Natur der Sache bedingt, dass der höchste prozentuale Anteil der Hartz-IV-Empfänger bei den bildungsfernen Schichten der Bevölkerung anzusiedeln ist. Natürlich gibt es auch Ingenieure, Lehrer, Krankenschwestern darunter, Leute, die es gelernt haben, sich zu artikulieren oder adäquat mit der gegenwärtigen Situation umzugehen - die meisten aber sind dazu nicht fähig. Sie sind ihrer Lage beinahe hilflos ausgeliefert, finden keine Sprache und somit kein Gehör, reagieren angesichts der daraus resultierenden Perspektivlosigkeit mit steigender Aggressivität - entweder gegen sich, aber auch gegen andere. Diejenigen, die ihnen professionell zur Seite stehen sollten, stumpfen allzuoft angesichts ihres Klientels ab, denn ein ums andere Mal sitzen die Bediensteten der Jobcenter blökenden, bölkenden, ungepflegten und frech fordernden, drohenden und keifenden Gestalten gegenüber, die dafür, dass sie für das Wenige, was man ihnen zubilligt auch noch etwas leisten sollen, selten Verständnis aufbringen.

Das ist das Klima, in dem Emotionen wechselseitig aufkochen. Die Machtlosen begehren auf, die sich am längeren Hebel wähnen, stellen klar, wer hier das Sagen hat. Fronten verhärten, der Ton wird unangenehm, der auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzt, ist der Feind!

Kein deutsches Jobcenter wird diese Dinge so bestätigen. Nicht im Klartext. Andere Fakten aber weisen unmissverständlich in diese Richtung. Beispielsweise die omnipräsenten Sicherheitsbediensteten, die selbst permanent von der Notwendigkeit der Aufstockung ihrer Bezüge durch Hartz IV bedroht sind. Sie lungern herum, quatschen, glotzen, versuchen den langen, freudlosen und ineffektiven Arbeitstag herumzukriegen und sind recht eigentlich nur zur Drohung anwesend - eine Drohung, die sich gegen die Arbeitslosen richtet, eine Drohung, welche die Machtfrage zugunsten der Jobcenter-Angestellten eindeutig und vor allem offensichtlich klärt. Die Botschaft ist auch für intellektuell Benachteiligte deutlich: Wirst du laut - wird die Sache handfest. Du ziehst den Kürzeren, garantiert!

Eine solche Methode der Abschreckung aber ist nur dort vonnöten, wo ein reales Gefahrenpotential zu erwarten ist.

Im Allgemeinen hilft die martialische Geste auch, den Burgfrieden zu wahren. In Frankfurt am Main jedoch gab es nun die erste Tote. Eine Arbeitslose. Und ein schwerverletzter Polizist.

Die Arbeitslose soll laut geworden sein, die Angestellte verwies sie des Raumes, die Arbeitslose wurde noch lauter, der Sicherheitsdienst oder die Polizei griffen zu, die Arbeitslose stach mit einem Messer auf den zugreifenden Polizisten ein. Seine Kollegin schoss! Die Arbeitslose verstarb an ihren Schussverletzungen. So liest sich das im Heeresbericht.

Wie viele Verletzungen gab es im Vorfeld, wie viele Demütigungen, wieviel Unverständnis für den jeweils anderen und vor allem - wie wenig Bereitschaft, den Gegenüber auch nur ansatzweise verstehen zu wollen. Für die Angestellte war die Arbeitslose keine Kundin. Mit Sicherheit nicht. War sie für sie ein lästiger Gegenstand, mit dem sie ihr täglich Brot sauer verdienen muss? Dabei träumt sie vielleicht von ihrem Zuhause, vom nächsten Urlaub in Spanien, vom Feierabend und vor allem davon, endlich dieser ewig quengelnden, sperrigen, maulenden, fordernden, drohenden und den ganze Tag vermiesenden Subjekte ledig zu sein, die mit ihren Gören ankommen und schon wieder einen dicken Bauch haben, die nur an der Matratze horchen wollen und sofort den "Gelben" ziehen, wenn es wieder einmal heißt, die Reihen der Spargelernte-Helfer zu verstärken oder den Park zu reinigen.

Aber Geld, Geld, Geld - das wollen sie und sie sind, so doof sie sonst sein mögen, mit allen Wassern gewaschen, wenn es um ihre realen und vermeintlichen Rechte geht.

Und wie sah die Arbeitslose die Welt? Vierzig Jahre soll sie alt gewesen sein. Wie alt war die Angestellte. Mitte Zwanzig? Und die blöde Kuh befindet darüber, was ihr, einer erwachsenen Frau, die möglicherweise schon etwas geleistet hat im Leben, zustehen soll. Hatte sie Schuld an ihrer Misere? War sie nicht krank gewesen in den letzten paar Wochen? Statt der geforderten 15 Bewerbungen hatte sie wohl nur 12 geschafft, oder waren es ein paar weniger. Und dafür soll sie jetzt auch noch in ihrem Leistungsbezug gekürzt werden? Was bildet sich die aufgelackte Schnepfe eigentlich ein! Die hat ihr Schäfchen im Trockenen, weiß wo sie jeden Morgen hingehen kann und weiß, wann das nächste Gehalt auf dem Konto ist. Sie hingegen... Hat sie nicht schon genug Trödel mit der Polizei, weil man die pubertierende Tochter wieder beim Klauen erwischt hat. Ein Lidschatten war's diesmal, wie er gerade "in" ist in der Klasse. Das gab schon so ein Theater, als sie der Kosten wegen an der letzten Klassenfahrt nach Frankreich nicht teilnehmen konnte. Der Alte kann sie nicht unterstützen, ist selbst arbeitslos, hängt nur mit Kumpels vor der Wii ab und säuft. Der Vermieter hat gedroht, der Gerichtsvollzieher stand letzte Woche auch nicht zum ersten Mal vor der Tür. Und jetzt diese bescheuerte Göre! Will ihr noch mal 'n Fuffi kürzen. War sie laut geworden? Na, wer denn nicht in solch einem Fall! Und jetzt schmeißt die einen noch raus, jetzt schlägt's Dreizehn! Der Bulle soll seine schmierigen Pfoten... Ob sie noch sieht, wie er sich krümmt. Sie hat es nicht einmal gemerkt, wie sie ihm das Messer in den Bauch stieß. Die Erregung schaltete das Hirn ab. Es wird sich nie wieder anschalten, sie spürt nur noch, wie ihr die Beine weich werden, sie nicht mehr tragen wollen, sie zusammensackt. Der Schmerz wird kurzfristig durch den Schock hinweg gewischt - nun liegt sie auf dem Boden, irgendwelche Stimmen um sie herum, aufgeregt, aber immer leiser, immer ferner werdend. Es wird dunkel vor ihren Augen und es wird nie wieder hell...

Sie ist tot.

Wie mag es der Todesschützin gehen? Wie wird sie damit fertig, einen Menschen erschossen zu haben? Sie - die Überlebende... Irgendwann werden die Gedanken kommen und sie wird sich ihrer nicht erwehren können. Keine Psychologin, kein Verdrängungsmechanismus, keine Ausrede, sie hätte ihren Kollegen aus der Lebensgefahr erretten müssen, wird sie davor bewahren. Irgendwann wird sie sich mit dem Leben ihres Opfers auseinandersetzen, zu erfahren suchen, was für ein Mensch das war. Die Frau, die nun tot ist, war ein Schulmädchen von 12 Jahren, als die zukünftige Polizistin geboren wurde. Wie alt sind die Kinder der jetzt toten Frau? Werden die ihr nicht irgendwann die Frage stellen, ob nicht ein Schuss ins Bein ausgereicht hätte um die ausgetickte Mutter zu schonen? Wird die Beamtin nicht irgendwann vor der Frage stehen, ob sie sich nicht zur Gehilfin eines Systems gemacht hat, dass diese von ihr getötete Frau erst zu der Verzweiflungstat getrieben hat. Vom Büttel zum Henker - hat sie sich dafür zum Polizeidienst beworben?

Eine Frau ist tot. Wir wissen nicht, wer oder wie sie war. Vielleicht war sie auch ein aggressiver, unleidlicher Mensch, unbeherrscht und provozierend. Wie dem auch sei - das Recht, dem Polizeibeamten ein Messer in den Bauch zu rammen, hatte sie definitiv nicht. Darüber aber kann man nun diskutieren, wie man will. Am Ende steht das unbarmherzige Ergebnis: Eine Frau ist tot!

Wird dieses tragische Resultat zum Fanal? Eines, das Revolutionen auslöst? Hat die 28jährige Polizistin eine Marianne von der Pariser Barrikade geschossen?

Sicher nicht. Aber - die Interessen beginnen bereits mit tödlicher Gewalt aufeinander zu prallen. Es war bei der Französischen Revolution nicht anders, bei der Oktoberrevolution, in Tunis. Überall begann es mit einem Schuss - und Toten!

Sicher, wir sind in Deutschland. Die Mentalität und der noch immer verbreitete Wohlstand verlagern die Schwelle der offenen und gewaltsamen Rebellion gegen die herrschende Disproportionalität von Wohlstand und Armut auf ein hohes Niveau. Zu hoch, als dass man Krawalle, Ausschreitungen und brennende Straßen wie in Hamburg und Kreuzberg am 1. Mai befürchten müsste. Auch war die Arbeitslose von Frankfurt am Main kein weiblicher Benno Ohnesorg, kein Rudi Dutschke, keine Ikone eines wie auch immer organisierten Widerstandes. Dennoch - ihr Tod wird nicht folgenlos bleiben. Zu deutlich kristallisiert er die Diskrepanz in der entsolidarisierten Gesellschaft zwischen den rücksichtslosen Heuschrecken, ihren willfährigen Lakaien in der Regierung und im Parlament und den ohnmächtigen Verlierern heraus und entlarvt alle weihevollen Reden zum Umgang mit den Sozialschwachen als blanke Makulatur.

Arbeitsämter gleichen immer mehr den Banken, was den Bedarf ihrer Absicherung betrifft. Also scheint die Ware, mit der diese staatlichen Einrichtungen umgehen von ähnlichem Wert zu sein wie das analog dazu in der Bank verhandelte Geld. Diese Ware aber ist: Arbeit! Bezahlte Arbeit! Arbeit, deren Entlohnung die Aussicht auf ein erfülltes und würdiges Dasein bietet! Wer diese Aussicht verliert, der hat nichts mehr zu verlieren.

Den Arbeitsämtern und "Jobcentern", welche die Mangelware "Arbeit" verwalten, ist das alles längst klar. Sonst hätten sie ja nicht diese enorme Aufrüstung mit Sicherheitspersonal betrieben. Es muss aber der Gesellschaft klar werden. Sonst heißt es eines Tages: "Alles fing an mit einem tödlichen Schuss in einem Frankfurter Jobcenter!"

19. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
21.05.2011