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Testkunden S. M. Druckepennig Menschen sind keine vollkommenen Wesen und wo sie einen Vorteil für sich sehen, werden die wenigsten zögern, ihn wahrzunehmen, selbst wenn das die Grenzen der Legalität überschreiten sollte. So sind derer nicht wenige, die unter Ausnutzung jedweder Raffinesse in der Kaufhalle zu stehlen versuchen und hernach schwarz mit der Straßenbahn fahren. Das alles ist kein Geheimnis. Die Unternehmen wehren sich. Der öffentliche Personenverkehr schickt Kontrolleure ins Rennen, die Waren in den Kaufhäusern werden teilweise mit elektronischen Sicherungen ausgestattet, was aber bei Pfennigartikeln unsinnig erscheint. Das geschulte Auge der Verkäuferin muss also des Diebstahlversuchs gewahr werden und um diese, ihre Fähigkeit auf den Prüfstand zu stellen, beauftragen beispielsweise die Discounter sogenannte Testkäufer, die bewusst Waren im Einkaufskorb so drapieren, dass sie möglichst ungesehen die Kassenzone passieren. Fällt die Verkäuferin auf den Trick herein und entdeckt die listig versteckten Artikel nicht, so zückt der Testkäufer seinen Ausweis und verkündet der erbleichenden Frau an der Kasse, die oft der chronischen Unterbesetzung der Verkaufseinrichtungen wegen kaum weiß, wo ihr der Kopf steht, dass sie durchgefallen sei, was in aller Regel arbeitsrechtliche Konsequenzen zeitigt. Das beginnt mit Abmahnungen und kann im Wiederholungsfall mit der Kündigung enden.An eine entlastende Verstärkung des Ladenpersonals hingegen denkt das Management natürlich nicht. Wo kämen wir da hin! Der Shareholder-Value darf nicht gefährdet werden! Die Abfindungen in Millionenhöhe im Falle des Versagens der Nieten im Nadelstreifen müssen fließen! Profit und Wohlleben der kaufmännischen Oberschicht stehen im unbedingten Fokus des Interesses. Dass hingegen im selben Augenblick Schüler der benachbarten Schule vor den Augen der verängstigten Verkäuferinnen ungeniert klauen und frech grinsend durch den Kassenbereich laufen ohne auch nur einen Pfennig zu bezahlen - das scheint die Chefs der Verkaufsketten nicht weiter zu stören. Die daraus resultierenden Verluste werden sowieso an die "werte" Kundschaft weitergegeben. Nur, wenn es der Verkäuferin einfallen sollte, aus dem Abfallbehälter aussortierte, weil überlagerte Lebensmittel, die für die Vernichtung bestimmt sind, mit nach Hause zu nehmen, dann platzt der Mond. Dann geht es ihr an den Kragen. Fristlos gefeuert! Zeter und Mordio! Feindio! Diebio! Des Feldgeschreis der Ausbeuter ist kein Ende. Es geht also um die eigenen Arbeitssklaven, die oft genug neben ihrem 40-Stunden-Job auch noch Hartz-IV beantragen müssen um über die Runden zu kommen. Das austauschbare Proletariat: Funktioniert es nicht mehr richtig, wird es gemäß den Richtlinien der Wegwerfgesellschaft gewechselt. Genug menschliches Material liegt ja schließlich auf der Straße herum! Wir sehen also in dieser Kontrollpraxis auch eine weitere Möglichkeit, die Verkäuferinnen kurz zu halten, zu schikanieren, einzuschüchtern. Szenenwechsel: Ein junger Mann sitzt in der 1. Wagenklasse der Reichsbahn auf dem Weg vom Berliner Zoologischen Garten nach Brandenburg an der Havel. Wir kennen ihn, er gehört zu den "Stammkunden". Als der Schaffner die Billetts in Augenschein nehmen will, eröffnet er ihm, alle Papiere zuhause vergessen zuhaben und dessen erst bei der morgendlichen Fahrt nach Berlin gewahr geworden zu sein. Ist uns auch schon passiert. Misslich: Kein Geld in der Tasche, keine Kreditkarte, keine Papiere und eben - keine Billetts. Der junge Mann hat Glück. Nicht der kleine, blonde, abgebrochene Meter fuffzich steht vor ihm. Diese Megäre in der Uniform einer Zugbegleiterin hätte ihn gnadenlos abkassiert. Ebenso ihr Kollege mit dem Pferdeschwanz und dem süßlichen Lächeln. Nein, vor ihm steht einer der sympathischen Repräsentanten des Geflügelten Rades. Dennoch ruft der Kondukteur laut: "Sind Sie auch kein Testkunde? Den hatte ich heute nämlich auch schon an Bord. Kam genau mit demselben Spruch. Den hatte ich auch laufen lassen - hat mir eine rein gewürgt dafür!" Der junge Mann verneint vehement. Der Schaffner ist menschlich, lässt ihn im Zug. Was soll er tun, es ist nun mal sein Charakter, warmherzig, mitfühlend... Eigenschaften, die ihn zu einem Geschäftsrisiko für das Unternehmen Bahn werden lassen. Ab und an kommt es aufgrund der Forderungen, Prämissen und Dienstvorschriften der Führungsetagen zu bedauerlichen Kollateralschäden, wenn die Presse und damit die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, dass wieder einmal eine Musikschülerin bei Nacht und Nebel samt ihrem Instrument auf einem einsamen Unterwegsbahnhof an die frische Luft gesetzt worden ist, so dass sie die erbarmungslose Gier der Bahnoberen leicht Leben und Gesundheit hätte kosten können. Man entschuldigt sich unter dem Druck der erbosten Öffentlichkeit, schickt einen Präsentkorb vorbei und - weiter geht das hässliche Spiel. Es ist das alte Elend mit dem deutschen Obrigkeitsdenken, das entgegen allen Beteuerungen keine Mitarbeiter und Kunden, sondern nur Untertanen und den Mann vor dem Schalter kennt. Natürlich entsteht der Bahn durch Schwarzfahrer Jahr für Jahr ein enormer Schaden. Aber man muss doch differenzieren zwischen dem kriminellen Bahnbenutzer und dem armen Teufel, dem einmal im Jahr ein Missgeschick passiert ist. Und man kann sich darauf verlassen: Die alten Zugbegleiter kennen ihre Pappenheimer – denn, wie gesagt, die Vorort- und Pendlerzüge befördern in aller Regel über lange Zeiträume hinweg ein Stammpublikum. Nein, es ist ärgerlich! Es ist unverständlich. Dennoch! In der Geschichte liegt für uns besonderes Ausrufezeichen: Der freundliche Schaffner ließ sich nicht von seinem Kurs abbringen, so wenig wie der Zug, den er betreute. Er verschonte seinen Fahrgast, der sowohl seine Monatskarte als auch seine Vergesslichkeit schon teuer genug bezahlt hatte. Dieses ehrenhafte, kluge und aus dem Herzen kommende Verhalten wirbt für den Staatskonzern, dessen Ruf schon angeschlagen genug ist. Es rehabilitiert ihn beinahe, so wie sieben alttestamentarische Gerechte es vermochten, eine ganze Stadt zu retten. Einer solchen Firma aber sollte auch die Frage eine Überlegung wert sein, ob ihr beklagenswerter Umgang mit den Mitarbeitern, welche die Schnittstelle zur Kundschaft bilden, dazu angetan ist, die Identifikation dieser "Fußsoldaten" mit ihrem Brötchengeber zu befördern. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Nun wissen wir aber, dass verschlissene Transmissionsriemen irgendwann einmal reißen. Wem will dann die Deutsche Bahn noch Aktien verkaufen? Wer soll dann noch Vertrauen in die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens aufbringen, das da seine Intention zum Ausdruck bringt, maximaler Profit ließe sich nur mittels feudaler Tyrannei und verbohrter, bürokratischer Engstirnigkeit erreichen? Weitsichtige Manager wie Carl Zeiss und Dale Carnegie haben schon vor Jahrzehnten erkannt, dass das wichtigste Kapital, über das eine Firma verfügt, nicht in seinen Produktionsmitteln, Immobilien, Außenständen..., ja nicht einmal in seinen Geschäftsverbindungen besteht, sondern in seinen Mitarbeitern. Wer das nicht verinnerlicht hat, wird sich nicht auf Dauer halten können und ist es auch nicht wert, dass man einen müden Cent in Optionen und Anleihen investiert. Qualität setzt sich durch - und das meint nicht nur die Qualität des Produktes sondern eben auch die Qualität der Mitarbeiterpflege. Die eigenen Leute hinterfotzig zu überwachen und ihnen das Leben ungerechtfertigt zu erschweren, ist aus diesen Gründen kontraproduktiv. Nichts gegen eine Kontrolle vor Ort, die dazu geeignet ist, Lücken in der Kundenbetreuung zu schließen - elenden, profilneurotischen und komplexbehafteten Denunzianten aber eine Spielwiese einzurichten - das ist schlichtweg idiotisch. Weniger also der aufdringlich und leutselig dienernde Geschäftsführer veranlasst uns, den Laden erneut zu betreuen, sondern die freundliche und um die Kundenwünsche bemühte Verkäuferin; nicht die betrügerischen und verlogenen Werbekampagnen lassen uns auch morgen wieder in die Reichsbahn einsteigen, sondern ein couragierter und menschlicher Schaffner. |
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B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009 21.04.2011 |