Reizwort Inclusion
vom gewollten Niedergang der deutschen Schule
J.-F. S. Lemarcou
Wir leben in einem freien Land, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung
verfassungsrechtlich verankert ist. Also dürfen verbeamtete Lehrer
und ihre angestellten Kollegen alles sagen, was ihnen ihr Dienstherr
zum jüngsten pädagogischen Reizthema "Inklusion"
zu sagen gestattet, also außer Jubel-Oden – nichts. Was
ihnen der Dienstherr (noch) nicht verbieten kann, ist betreten auf den
Boden zu schauen und zu schweigen. Das tun viele der Lehrer, bei denen
der Verstand noch nicht am Eingangstor der Schule hängengeblieben
und vertrocknet ist. Selbst die, deren Lehrerberuf noch immer Profession
und noch nicht Diagnose ist, sind am Verzweifeln. Dabei stellt sich
für sie nicht einmal so sehr die Frage: Ist es Sparzwang oder nur
wieder eine weltverbesserische Schnapsidee von der Welt vollkommen entrückten
Ministerialbeamten, die den Leidgeprüften diesen neuerlichen Wahnsinn
beschert hat?
Für sie zählt nur das Ergebnis. Und das ist für alle
unmittelbar Beteiligten verheerend. Die Inklusion, so nennt sich der
von der Administration ausgeheckte edukative Geniestreich, sieht vor,
behinderte Kinder in allgemeine Schulklassen zu integrieren.
Ist es für Grundschullehrer jetzt schon größtenteils
die Hölle, mit "normalen" Kindern Unterricht zu gestalten,
mit Kindern, deren Eltern ihnen oftmals, statt Partner im Erziehungsauftrag
zu sein, das Leben schwer machen, den Erziehungsauftrag des Lehrers
verneinen, so setzt ihnen die Obrigkeit nun noch eins drauf! Wozu hatte
die Gesellschaft behinderten Kindern einst sonderpädagogische Einrichtungen
zur Verfügung gestellt? Anliegen war es doch, auf die besonderen
Bedürfnisse und Fähigkeiten dieser Kinder besser, gezielter
und effektiver eingehen zu können, sie entsprechend ihrer Behinderung
zu fördern, statt Lehrer und Kinder permanent zu überfordern.
Und nun heißt es: Zurück zu den Wurzeln, zurück zur
Klippschule? Alle wieder in einen Topf?
Was, außer die enormen Einsparungen, die geschlossene Schulen
mit sonderpädagogischem Auftrag dem Landesbudget versprechen, soll
das bringen? Der Zwang ist offensichtlich: Der Bildungsetat wurde um
27 Millionen Euro gekürzt!
Es gibt bereits Beispiele an Grundschulen, deren Namen hier nicht genannt
werden sollen. 30 Fünfklässler, davon fünf, wie sie von
Mitschülern und deren Eltern genannt werden – "Pillenkinder",
also Verhaltensauffällige, welche medikamentös sediert wurden.
Sie sind nicht in der Lage, dem Unterricht konzentriert zu folgen.
Sie zappeln hyperaktiv herum, leiden an einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom
oder an einem sonstigen sozial unverträglichen Charakteristikum.
Was sollen ihre Mitschüler in einem solchen Umfeld lernen? Dass
man Behinderte in die Mitte nimmt, sie integriert, sie als festen Teil
der Gemeinschaft auffasst? Gut und schön – aber wird dieser
Lernreffekt tatsächlich erzielt oder ist er nur eine Fata Morgana,
ein Hirngespinst, ein Wunschtraum von Pädagogen, die vergessen
haben, wie der Nackte Affe wirklich gestrickt ist und sich in seiner
juvenilen Phase auch am deutlichsten artikuliert? Natürlich werden
der Lehrerin zwei sonderpädagogisch geschulte Kolleginnen zur Seite
gestellt, die sich explizit um die "Pillenkinder" kümmern
sollen. Entschärft das die Dynamik im Klassenraum? Unsere Beobachtungen
können das nicht bestätigen. Die armen Teufel bleiben die
"Sprallos", "Movies", "Spasstis" und was
dergleichen liebevolle Bezeichnungen mehr sein mögen. Diese revanchieren
sich mit noch mehr Aggressivität, als ihnen häufig bereits
innewohnt. Während man ihnen zum zehnten Male vergeblich zu erklären
sucht, das zwei und zwei vier sind, geraten die Leistungsspitzen der
Klasse immer mehr ins Hintertreffen. Sie drehen Däumchen und kommen
mit der Hälfte des Wissens nach Hause, was man ihnen leichtlich
hätte vermitteln können. Dafür aber haben sie sich eine
Menge der Unarten angenommen, die in einem derart inhomogenen Klassenkollektiv
von den leistungsschwachen Schülern in Kompensation zu ihrer mangelnden
Auffassungsgabe vorgetanzt werden. Blöd nur – denen sieht
man's nach, die jungen Hoffnungsträger ihrer Eltern hingegen werden
mit frustrierenden Kommentaren bedacht. Welch schöner Effekt einer
an lila DDR-Zeiten gemahnende Gleichmacherei im Bildungswesen. Nur,
dass die Kommunisten sehr wohl differenzierten und den lernbehinderten
Kindern entsprechende Sonderschulen bis zum letzten Tage des Arbeiter-
und Bauernstaates zur Verfügung stellten.
Nein, im Endeffekt ist den Entscheidern dieses Projektes das Wohl der
Kinder scheißegal. Es geht ums nicht vorhandene Geld. Wäre
es anders, die Leute, welche direkt an der Frontlinie kämpfen,
die Lehrer und Pädagogen, würden nicht stumm und verzweifelt
zu Boden blicken, wenn sie vor einer Kamera stehen und nicht schimpfen
wie die Rohrspatzen, befragt man sie im privaten Kreise, sondern sie
würden erhobenen Hauptes einhergehen – denn man hätte
sie als Experten um ihre Ansicht gefragt und – man hätte
auf sie gehört!
Koedukation ist etwas sehr Progressives, unbestritten. Behindertenintegration
schon bei den Jüngsten als Selbstverständlichkeit zu etablieren
ebenfalls. Das Kind jedoch mit dem Bade auszuschütten, den Interessen
von behinderten Kinder, nichtbehinderten Altersgenossen, ihren Lehrern
und ihren Eltern so eklatant zuwiderzuhandeln um ein paar Millionen
Euro einzusparen, ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen.
Es ist wirtschaftlicher Wahnsinn. Denn die Zukunft wird dem Land für
diese eingesparten Millionen eine enorme Zinslast abfordern. Das Bildungspotential,
das mit dieser Durchmischungspolitik unrettbar verloren geht, fehlt
dem deutschen Arbeitsmarkt der kommenden Jahre. Er fehlt den Universitäten
und Innovationsanstrengungen, denen Deutschland bedarf, um weiterhin
in der ökonomischen Oberliga des Planeten mitzuspielen.
Man sagt, das Gegenteil von Gut sei nicht Böse, sondern Gutgemeint.
Inklusion – davon darf man getrost ausgehen, ist aber nicht einmal
im Ansatz gut gemeint. Es ist der törichte Versuch eines bankrotten
Landeshaushaltes, einen Strohhalm als Rettungsring verkaufen zu wollen.
Es ist ein Wahnsinn von der Sorte, für den hinterher, wenn es gründlich
gegen den Baum gegangen ist, wieder niemand verantwortlich sein wird.
Es wäre auch müßig, diesen Jemand dingfest machen zu
wollen – selbst eine ganze parteinahe Denkfabrik samt den umsetzenden
Ministerialbeamten könnten die Last nicht schultern, die sie mir
ihrem inkludierenden Amoklauf der Bevölkerung aufbürden.
Inkludieren, bedeutet "einschließen". Ein mehr als doppeldeutiges
Wort. Eingeschlossen – das kann auch heißen, gefangen, eingesperrt,
in zwanghafter Enge steckend. Sehr richtig, wenn man die mit einem Maulkorb
bedachten Pädagogen betrachtet, die behinderten Kinder, die aus
einer bislang geschützten Umgebung in die unbarmherzige Kälte
brutaler Behandlung auf den Schulhöfen und in den Klassenräumen
seitens der intellektuell besser aufgestellten Mitschüler gestoßen
werden. Sehr wahr, wenn man die Kinder und ihre Eltern bedenkt, denen
man nunmehr das Recht auf eine angemessene Entfaltung ihrer Persönlichkeit
beschneidet, weil dieses den Zwängen der koedukativen Inklusion
geopfert werden muss.
Die Gretchenfrage, die aber die Heuchler mit größter Sicherheit
entlarvt, kann leicht gestellt werden: Schicken sie ihre Kinder und
Enkel auf solche inkludierten Schulen, oder treffen wir die mit einem
goldenen Löffel im Munde Geborenen in exklusiven Internaten an,
in denen das einzige Zugeständnis an Menschen mit einer Behinderung
in der rollstuhlgerechten Ausstattung liegt. Hier kriegt man sie zu
fassen, hier müssen sie Farbe bekennen. Wir wissen, die betroffenen
Lehrer dürfen diese provokante Frage nicht stellen. Üble Restriktionen
wären die Folge. Aber wir dürfen. Und wir tun es. Hier und
jetzt! Die implizierte Antwort "includiert"!