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Zwei Züge

S. M. Druckepennig
Brandenburg an der Havel, die einstige Industriemetropole, verband seit jeher eine enge Beziehung zum geflügelten Rad der Eisenbahner.
Nicht nur, daß sich in Brandenburg an der Havel einer der ältesten Bahnhöfe des Reiches befindet. Hier kreuzte sich die Fortführung der ältesten preußischen Bahnlinie von Berlin nach Magdeburg mit regionalen Linien in alle Himmelsrichtungen.
Gewaltige Lokomotiv-Drehkreuze bugsierten tonnenschwere Dampfloks auf das gewünschte Gleis. Güterzüge, Personenzüge, Schnell- und Bummelzüge donnerten pausenlos vorüber. Das Quietschen und Schlagen der rangierenden Eisenbahnen war meilenweit zu hören. Die Kreuzungen mit den Automobilverkehrsstraßen waren so mannigfaltig, daß die geplagten Einheimischen ob der schier unendlichen Schließzeiten an den Bahnübergängen (oft eine Stunde und mehr) die Havelmetropole kurzerhand in „Schrankenburg am Sabotagebalken“ umtauften.
All den Standortvorteilen Rechnung tragend, siedelte die Deutsche Reichsbahn einst ein gigantisches Reichsbahnausbesserungswerk auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik in Brandenburg-Kirchmöser an und begründete damit eine der Havelstadt eng verbundene Eisenbahnertradition, die bis heute nachhallt.
Am 24. April 2008 fand ein Dampflokomotive der Baureihe BR 52 der Deutschen Reichsbahn aus den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Brandenburg-Kirchmöser ihren letzten Stellplatz, um als grandioses Relikt des Zeitalters der Dampfrösser der Brandenburger Reichbahngeschichte ein imposantes Denkmal zu setzen.
Viel Stadtprominenz war anwesend, Minister Junghans von der Landesregierung gar. Hoch ging es her. Die Noblen der Domstadt saßen in den angehängten Waggons – einem Mitropa- und einem Reisewagen.
Etwas gedämpfter war da zur selben Zeit schon die Stimmung auf dem nur eine Bahnstation entfernten Brandenburger Hauptbahnhof. Auch dort stand ein Dampfroß. Auch dieses hatte nur einige wenige Waggons angehängt. Auch dieser Zug befand sich auf einer außerplanmäßigen Sonderfahrt: Am Bahnsteig 4 stand der „Zug der Erinnerung“.
Das ist der Zug, der als reisende Dokumentationsstelle in erschütterndster Weise die grauenhaften Schicksale der von den Nazis aus ganz Europa über den Schienenweg ins Gas transportierten Juden nachzeichnet.
Also wollen wir uns erinnern: Dort drüben: auf dem Peron zwischen den heutigen Gleisen 5 und 6 standen die letzten Brandenburger Juden, die vom Polizeischergen Kriesche nach dem Brandenburger Reichsbahnhof getrieben und dann in den Zug nach Osten gepfercht wurden – ihrer Vernichtung entgegen.
Wir stehen auf dem Bahnsteig 4 und blicken hinüber. Ein paar Schulklassen teilen den Bahnsteig mit uns. Ein paar interessierte Brandenburger. Die Zeit des Großen Bahnhofs für den kleinen Zug mit der schweren Last wird wohl am gestrigen Tage gewesen sein, als er ankam. Jetzt jedenfalls können wir keine Prominenz mehr erblicken. Die ist sicher wieder zum Tagesgeschäft übergegangen. Ein Teil davon läßt gerade in Brandenburg-Kirchmöser den Aufschwung hochleben. 8 von 59 ha rekultivierte Industriebrachen sind schon an den Mann gebracht. Na ja – immerhin.
Hier aber weht eine leichte Frühlingsbrise ein paar trockene Blätter über den Bahnsteig, spielt mit den Blousons der jungen Mädchen, trägt die schwermütigen Töne einer Klarinette herüber.
Neugierig betrachten wir die anwesenden Schülerinnen und Schüler. Die wenigsten scheinen aus eigener Initiative hier hergekommen zu sein. Ein Event unter vielen. Hauptsache, nicht in einem stickigen Klassenraum sitzen und Löcher in die Luft starren. Hier kann man gickern und gackern – und einige tun es. Was das hier soll, das realisieren sie im Mindesten nicht. Die Generation Fun hat keine Hirnwindung reserviert für das Elend der Welt. Sie wissen nichts damit anzufangen und betreten den Zug.
Drinnen geht das hohle Palaver weiter. Es fällt auf, daß die Jungs häufiger und intensiver die Dokumentationstexte lesen. Die Mädchen schauen flüchtig auf die Bilder. Wichtiger als die alten Photographien von Menschen, die zu ihrer Urgroßelterngeneration zählen, ist ihnen das Bild, das sie selbst abgeben: Der Ausschnitt muß was hergeben! Kommen die prallen Pobacken auch richtig zur Geltung? Ach ist das schön, jung und begehrt zu sein.
Die abstruse Hölle, die da wenige Meter vor ihnen Einblicke von infernalischem Grauen gewährt, ist nichts anderes, als was sie sich mir ihren Lovern am Abend bei Texas Chainsaw-Massacre, Stirb Langsam Teil 87 oder Saw III reinziehen.
Den reellen Bezug, den das Ganze zu ihrem eigenen Leben unmittelbar von einem Augenblick zum nächsten aufbauen könnte, erfassen sie nicht. Spatzenhirne, fressen, saufen, kotzen, ficken – das ist ihre Welt, sonst gar nichts.
Angesichts des Portraits eines süßen, circa dreijährigen Mädchens mit tiefschwarzen Kulleraugen bricht sich dann die endlose Dummheit einer etwa siebzehnjährigen Nymphe endgültig Bahn. Mit bebenden Brüsten deklamiert sie: „Das ist so gemein! So ein kleines Kind kann doch gar nichts dafür!“
Man lasse das auf sich wirken… Man nehme sich eine Minute Zeit über diesen Satz nachzudenken!
WOFÜR? Wofür, du selten dämliche Gake, kann dieses Kind nichts, wofür vielleicht sein Opa, sein Vater, seine Mutter, sein älterer Bruder, sein Onkel, seine Cousine etwas gekonnt hätte? Hä? Welches Verbrechen haben die denn begangen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Tod einer alten Frau und eines süßen kleinen Fratzes mit Bambiaugen?
Wenn du blöde Göre dem Kind eine Unschuld zuschreibst, welche die Ermordung dieses Kindes in deinen Augen gemein erscheinen läßt, welche Schuld haben dann die anderen Juden auf sich geladen, die ihren Tod auch nur im entferntesten rechtfertigen würde?
Definieren wir doch die Rassengesetze mal Spaßes halber um und legen fest, daß nicht die Juden auszurotten sind, sondern alle Menschen mit einem IQ unter 90. Dann wärst DU dran, du blöde Göre! Dann wäre es aus mit Lippenstift und Disko. Von jetzt auf sofort! DU würdest in einem stickigen Viehwaggon sitzen und deinem Tod entgegenrattern, während den Menschen im Reiche mit allen Mitteln einer modernen Propaganda erklärt würde, dein Tod sei notwendig für die Weiterentwicklung der Menschheit – denn solche Fickmaschinen wie du würden eh nur Sozialschmarotzer gebären – und die in Massen!
Die Willkürlichkeit, mit der Mitmenschen, Menschenbrüder und -schwestern mit einem Makel gebrandmarkt wurden, der erstens nie einer war und zweitens von der Natur nach dem Zufallsprinzip verteilt wurde – das ist die Schuld. Aber nicht die Schuld der Opfer sondern die der Täter!!!
Und es die Schuld der tumben Masse, auf die sich die Täter stützen konnte. Ohne diesen Rückhalt hätte kein Nazi auch nur einen Zug nach Auschwitz geschickt.
Es waren auch und vor allem die Frauen, die aus einem wollüstigen Gefühl aus der Gegend ihres Uterus heraus den Oberdämonen der Deutschen ins Reichskanzleramt beförderten. Man besehe sich die alten Filmaufnahmen. Wie ihre rechten Arme emporflogen. Wie sie sich alle, alle ein Kind von IHM wünschten. Wie sie mehr überhaupt nicht interessierte. Ein Kind von Superman – mehr braucht es nicht auf dieser Welt. Dann noch ein bißchen Spaß und Parties und alles ist chic!
Und da steht eine solche Vertreterin dieser Spezies, eine würdige Urenkelin ihrer Urgroßmütter, deren Augen so strahlten, als der Führer mit verkniffenem und versteinertem Gesicht vorüber fuhr.
Ein bißchen geschickte Propaganda nur und wir wollen ihr die Entrüstung über den Tod der kleinen Bambina schon austreiben! Das kleine Busenwunder ist doof genug. Das braucht nicht viel Bearbeitung, dann sieht sie ein, warum die kleine Jüdin beseitigt zu werden hatte. War eben nur hübsches Unkraut….
Das, das, das ist die eigentliche Botschaft des „Zuges der Erinnerung“! Schaut euch nicht nur die Dokumentation an – seht vor allem in die Gesichter der Besucher! Der jungen Besucher!
Mit ignoranten Schwachköpfen lassen sich all die Verbrechen, wie sie in der Dokumentation dargestellt wurden, jederzeit wieder ins Werk setzen. Unmöglich? Wirklich?
Was ist mit Pol Pots Kambodscha? Was mit dem Genozid zwischen Hutu und Tutsi? Was mit dem Massenmorden und Massakern an den Balkanvölkern des ehemaligen Jugoslawien in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts?
Haben die Frauen der argentinischen und chilenischen Offiziere denen nicht das Mittagessen gekocht, als sie von den Morden und Folterungen an den Regimegegnern heimkehrten?
Wir wissen auch keinen Weg, wie diese Schwachköpfe für das Thema aller Themata zu sensibilisieren sind. Vielleicht ist der Pflichtbesuch solcher Ausstellungen – wenn auch der schwächste – so doch der einzige erfolgversprechende Versuch.
Langsamen Schrittes verlassen wir den Brandenburger Hauptbahnhof. Auf der anderen Seite strebt ein hochaufgeschossener Jüngling mit Nazi-T-Shirt und Runengürtel der Straßenbahn zu. Auch so ein armer Teufel, den Mami und die anderen Mädchen nie richtig lieb gehabt haben und der sich jetzt mit der Macht der Dämonen an allen dafür rächen will.
Wir wenden unsere Gedanken angewidert ab von diesem armseligen Kretin und sehen auf die Bilder, die wir am selben Vormittag von der BR 52 in Kirchmöser gemacht haben.
Schön sieht sie aus – Donner und Doria! Eine echte BR 52, Lastesel und VW Golf der Deutschen Reichsbahn. Millionen von Tonnen von Gütern aller Art haben sie und ihre Geschwister einst kreuz und quer durch Deutschland und Europa geschleppt – und Millionen von Juden und Zigeunern – nach Osten – ins Gas!

11. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2008