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Man spricht nicht drüber

B. St. Fjøllfross
Ach, das Leben ist voller Peinlichkeiten! Da kommt sie nieder, die wohlbehütete Tochter aus gutem Hause. Beileibe nicht in den Verhältnissen, auf die das distinguierte Elternhaus 17 Jahre mühsam hingearbeitet hat. Das Töchterchen ist nicht verheiratet mit einem smarten jungen Anwalt. Ein zugegebenermaßen nicht übel aussehender Schlendrian südländischen Typus und zweifelhafter Herkunft ist der Erzeuger des jüngsten Familienmitgliedes. Sicherlich, die Frau Mama hätte dieses gelockte braunhäutige Bürschchen mit dem makellosen Waschbrettbauch auch nicht von der heimlichen Bettkante gestoßen, aber als Schweigersohn?! Nein, dieser Eklat! Dieser Skandal! Diese Blamage in ihren Kreisen! Wenn das ruchbar wird! Am besten, man spricht nicht drüber.
Der Sohn des Hauses studiert in Berlin Medizin. Man ist ja so stolz. Bis der Anruf kommt… Also im Polizeigewahrsam sitzt er. Hat völlig bekifft und besoffen einen Zigarettenautomaten klargemacht und einen Neger, der ihn darob zur Rede stellte, gleich mit. Die Staatsanwaltschaft fand das gar nicht spaßig. Die Rotationsmaschinen der Presse rotierten. Nun ist der Neger auch noch Kulturattaché eines afrikanischen Landes. Ach du dicker Hund! Nein, unser Sohn, der macht doch so etwas nicht. Wie das den Großeltern verklickern? Am besten, man spricht nicht drüber.
Überhaupt, die Schwester der Großmutter, die seit Ausbruch ihrer Schizophrenie in den späten Siebzigern nie wieder die private Geistesheilanstalt verlassen hatte… Na ja, am Besten man spricht nicht drüber.
Und daß Opa zu Kriegsende noch schnell seine schneidige SS-Offiziersuniform verbrannte, nicht aber die Aktienpakete, die er von dem jüdischen Kaufmann aus Galizien „geerbt“ hatte und dem er zum Dank dafür den untermenschlichen Judenschädel mit seiner 9mm Parabellum perforierte; und daß diese Aktienpakete einer südafrikanischen Goldmine den Grundstock zu dem beachtlichen Vermögen der Familie legten, das alles ist kein Thema um es vor dem flackernden Kamin zu diskutieren, über dem noch immer das Stilleben Melchior de Hondecoeters aus dem vormaligen Besitz des Warenhausbesitzers Rosenzweig prangt – am besten, man …
Der Herr Papa ist Staatssekretär im Wirtschaftsministerium eines nicht genannt werden wollenden deutschen Bundeslandes. Wie das da zugeht, also da könnte man ja glatt ein Buch drüber schreiben. Autsch! Papa hat sich ganz böse auf die Zunge gebissen. Was für ein fürchterlicher Gedanke!
Und kreidebleich gedenkt der Papa des Kollegen Tellmann*, der vor zwei Monaten wegen einer Indiskretion der Presse gegenüber ganz elend abgerüffelt wurde und nun das Hausarchiv beaufsichtigt. Dabei hatte sich der Tellmann völlig zu Recht darüber aufgeregt, daß ein aberwitziger Dienstweg, undurchdringliche Verwaltungsvorschriften, die auswendig zu lernen allein schon den zeitlichen Etat des Landesbeamten überstrapazieren, seine Projekte entscheidend gefährden. Der hat ja lange das Maul gehalten, der Tellmann. Als sein Chef, der Ministerialdirigent Dolgenbrodt aber begann, die Schuld für das drohende Scheitern des Projektes dem Tellmann in die Stulpenstiefel schieben zu wollen, da ist der gequälten Beamtenseele der Stehkragen geplatzt. Da brach es aus ihm heraus wie eine Sturmflut. Der Damm war gebrochen. Der Dolgenbrodt, dieses Arschloch, mit dem kein Aas mehr sprechen will, die bestgehaßte Figur im Hause, dieser Bremser, der sich nur selbst gern und dafür pausenlos reden hört, der keinen Medienrummel ausläßt und seine mit Brillanten behangene Fregatte über jeden Karneval schleift, diese insuffiziente Jammergestalt, dieser impotente Puffbesucher wollte ihn zum Erfüllungsgehilfen degradieren, obwohl sich Dolgenbrodts Anweisungen in punkto Schwachsinnigkeit gegenseitig zu übertrumpfen suchten.
Na gut, so harsch hat der Tellmann das alles gar nicht formuliert. Im Prinzip hat er gar nichts weiter gesagt, außer, daß man auf der Suche nach der Schwachstelle nicht unbedingt bei ihm anfangen sollte. Und jetzt soll Tellmann dafür bluten.
Nein, da steckt noch etwas ganz anderes dahinter. Jeder weiß es. Die Investitionsberatungsfirma von Dolgenbrodts hochgelobtem Superschwiegersohn (Harvard-Diplom) geht nach dreijährigem Bestehen den Bach runter. Na ja, da spricht man doch nicht drüber, nicht wahr! Wenn das aufkochen würde! Da wäre dieses hoffungsvolle Talent ja ruiniert, bevor er richtig hätte durchstarten können. Dolgenbrodts Tochter könnte sich nirgendwo mehr blicken lassen. An ihn selbst gar nicht zu denken. Das Getuschel auf dem Golfplatz… Um Himmels Willen! Kurz und gut: Dolgenbrodt würde den sauberen Eidam gerne im Ministerium unterbringen. Wenn man die banquerotte Bude rechtzeitig vertickert, ehe der schon kreisende Insolvenzverwalter herabstößt, dann könnte dieser blöde Hund von einem vertrottelten Schwiegersohn noch mit besten Referenzen bewehrt auf einen Referentensessel ins Ministerium gehievt werden, wo man ihn an der kurzen Leine und unter Kontrolle hätte. Wäre doch schlimm, wenn das Enkelchen sich in seinem Schweizer Internat anhören müßte, es sei die Brut eines „Losers“. Ach, Kinder können so grausam sein!
Also fort mit dem Tellmann! Was maßt sich der Idiot auch an, sich ein Automobil zuzulegen, das noch eine Klasse über dem Mercedes von Dolgenbrodt rangiert. Das war taktisch sehr, sehr unklug. Das sprengt doch jedes diplomatische Feingefühl. Doch dafür war der Tellmann noch nie bekannt. Verdammte unsensible Dampframme die. Und schließlich hat man ja auch keine anderen Sorgen, als sich mit solchen infantilen Blödheiten zu befassen.
Daß der Mann in der Vergangenheit hocheffektiv gearbeitet hat, das wird ihm eher noch zum Nachteil angerechnet. Wir sind ja hier wohl nicht in der freien Wirtschaft! Wie oft hat der Querschläger zur Durchsetzung seiner ehrgeizigen Ziele seine Kompetenzrichtlinien überschritten! Den Kragen hat ihm jedesmal nur sein Erfolg gerettet. Na ja, und das der letzte Herr Minister, Gott hab ihn selig, einen Narren an ihm gefressen hatte. War ja auch so ein Ehrgeizling, so ein Werner-Gilde-Typ, so ein ganz Erfolgsorientierter. So was wird hier nie einen Stallgeruch bekommen. So was wollen wir hier nicht! Und jetzt dieser unautorisierte Vorstoß der Presse gegenüber. Tschüß, Telli! Viel Spaß im Aktenkeller!
Das wäre ein leidiger Einzelfall glauben Sie? Wachen Sie auf, Menschenskind! So funktioniert die Bundesrepublik. Bevor der Laden genauso krachen geht, wie die Consultant-Bude von Dolgenbrodts Schwiegersöhnchen, wollen wir mal eben schnell die sauer ergaunerten Putten nach Liechtenstein schaffen. Schließlich will man ja noch was von dem Geld haben und nicht den schleichenden Untergang der BRD GmabH (Gesellschaft mit außerordentlich beschränkter Haftung) mitfinanzieren. Wie? Was? Die Bundesrepublik sei eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts? Also, wenn Sie dahinten auf den billigen Plätzen schon geistreiche Scherze machen wollen, dann nehmen Sie mal eine Enzyklopädie des jüdischen Witzes zur Hand, wie zum Beispiel Frau Elena Loewenthal aus Mailand eine vorlegte. Da können Sie noch was lernen. Das mit dem bürgerlichen Recht war bestenfalls ein schaler Kalauer.
Aber da spricht man ja am besten nicht drüber…
Doch, ich glaube es gibt Gesprächsbedarf. Sehr dringenden sogar. Ein deutscher Staat ist in der Vergangenheit bereits an seiner Schönrederei und seinem ins Exzessive gesteigerten Selbstbetrug erstickt. Nach Megatonnen zu berechnende Dummheiten mußten schamvoll bemäntelt, ummoduliert, geschönt, gefälscht werden. Rosarote Brillen waren Dutzendware; klarsichtige Nestbeschmutzer wegzusperrende Störenfriede. Heute stehen wir schon am Abgrund, morgen sind wir gewiß schon einen Schritt weiter…
Ein Fehler wird bekanntlich erst dann ein Fehler, wenn man einen zweiten hinzufügt. Also Michel, laß uns darüber reden. Jetzt!
* Namen von der Redaktion geändert

11. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2008