Moderne Zensur
B. St. Fjøllfross
In einem Artikel aus dem Jahre
1932, den Dr.Tucholsky mit dem imperativen Titel „Freier Funk!
Freier Film!“ überschrieb, erklärt unser geistiger
Vater sinngemäß, es wäre einer Demokratie durchaus
angemessen, auch Stimmen aus den extremen Randbereichen des politischen
Spektrums zu Worte kommen zu lassen. (Wörtlich zitieren dürfen
wir nicht – noch nicht – sonst hält die Tucholsky-Gesellschaft
fordernd die finanziell interessierte Hand auf!
Das tut aber nichts. Man kann den Artikel bequem im Band 10 der Gesammelte-Werke-Edition
von „rororo“ nachschlagen.)
Grundlage einer Zensur sei in jedem Falle ein gefestigtes, weltanschauliches
Bild, dem sich das zensierende Gemeinwesen zu verpflichten habe. Und
so beklagt Herr Tucholsky, daß der Staat, dessen verheerende
mediale Zustände er ein Jahr vor der verhängnisvollen Machtergreifung
durch die Nationalsozialisten so trefflich beschrieb, bar jeder stabilen
moralischen Grundlage eine einseitige Zensur zugunsten militanter,
aggressiver und finanzstarker Kräfte betriebe.
Lieber St.Kurt, sie haben offensichtlich Deinen Artikel gelesen, verstanden
und – umgesetzt!
Doch das Ergebnis ist ein anderes, als Du es Dir erträumtest.
Genauer gesagt ist es das Gegenteil dessen! Die Zwecke, denen die
Zensur von einst zu dienen hatte, sind durch ihre Abschaffung nachgerade
sublimiert worden.
Wie das geht? Nun, das ist ganz einfach. Der von Dir angesprochene
Rundfunk ist in Gestalt von Radio und Fernsehen zu einem vielkanaligen,
rund um die Uhr berieselnden Alltagsmedium geworden, ergänzt
von Zeittotschlägern wie Playstation, Computerspiele und Internetversuchungen.
Während man anfangs der Dreißiger Jahre noch große
Mühe auf die Erstellung einer Radiosendung verwandte, bemüht
war, echte Inhalte – welcher Natur auch immer – über
den Äther zu vermitteln, stürzt nunmehr eine ununterbrochene
Kakophonie von englischen Schlagern, sinnlosem Gequassel und Gewinnspielchen
auf uns ein. Bei endlosen Varianten des „Frechen Telephons“
werden zur Belustigung vieler Tausender Deppen einige von ihnen mit
albernen, oft unterniveauigen Späßchen verscheißert.
Die Gaudi schafft Einschaltquoten. Die wiederum dehnen die gewinnträchtigen
Werbeblöcke, die natürlich einen Großteil der elektromagnetischen
Umweltverschmutzung ausmachen.
Und alles, alles kann, darf und soll hinausgeplappert werden in die
weite Welt und die Tiefen des Alls, bis selbst die Aliens in einigen
Hundertmillionen Jahren das Kotzen erfinden.
Inmitten dieses immensen Ozeans an geistiger Diarrhoe nun wird Deiner
Forderung entsprochen. Doch die Stimmen, die Du zu hören wünschtest,
gehen unter, verschwinden, treiben unentdeckt und unbeachtet, wie
ein kleiner Algenteppich, eine Flaschenpost, ein winziges Atoll unter
den Wellenbergen der Dummheit. Die Tarnung ist perfekt. Sie arbeitet
weitaus effektiver, als die Zensur zu Deiner Zeit, die ja das zensierte
Material, den totzuschweigenden Geist erst richtig interessant machten.
Eigentlich hätten schon Deine Zeitgenossen auf die entsprechenden
Erkenntnisse zurückgreifen können. Alle Bücher, die
auf dem vatikanischen Index standen, gingen im Kurs erst so richtig
hoch. Zulassen! Zulassen! Dann saufen sie ab!
Die heutige mediale Welt, dreiundsiebzig Jahre nach Deinem Artikel,
ist von Protagonisten desselben Schlages wie ihre Großväter
cleverer gestaltet worden, als man es damals ins Werk setzte.
Heute stehen allerorten riesige unsichtbare Plakatwände vor den
Eingangstoren zu den medialen Landschaften, mit weithin prangender
Aufschrift: „Rasenlatschen ausdrücklich erwünscht!“
Etwas kleiner darunter: „Denkarbeit, geistiges und kritisches
Hinterfragen der angebotenen Inhalte unerwünscht. Eltern haften
für ihre Kinder!“ Und sie haften. Und wie sie haften! Als
gälte es Leib und Leben.
Die bildungsfernen Schichten der Bevölkerung fordern Brot und
Spiele. Letzteres bekommen sie im Übermaß. Und sie ziehen
ihre Brut mit in den Circus Maximus.
Schalt den Fernsehapparat ruhig an. Irgendwo wirst Du schon Thälmanns
Stimme hören. Und irgendein Historiker wird ihn im Nachhinein
kritisch kommentieren. Drei Sätze des Kommentators, dann ist
Thälmann kaputt, wetten? Völlig sinnlos, ihn in Buchenwald
hinzumeucheln. Schalte weiter, und Du siehst Deinen Remarque-Film
„Im Westen nichts Neues!“ Hochgelobt, auf niveauvolle
Sendeplätze wie 3SAT, ARTE oder andere Spartenkanäle plaziert
– von denen man sicher sein kann, daß sie bei der Mehrheit
der Konsumenten (das Wort Menschenmaterial ist mittlerweile den unschönen
Begriffen zugerechnet worden, die man im Sinne der political correctness
nicht mehr verwenden sollte) nicht, kaum oder nur belustigt wahrgenommen
werden. Film kaputt! Erledigt!
Die anderen, die vom Volke wirklich frequentierten Sender, warten
dann mit den kriegsverherrlichenden Ballerfilmen auf, hirnlos, inhaltslos,
die zum Schein noch einen Übermenschen agieren lassen, der natürlich
nur eine friedliche Welt für alle kleinen Frauen und Kinder im
Sinne hat. Natürlich erkämpft der Heros dieses verlogene
Paradies dann durch Ströme von Blut, Berge von gebrochenen Knochen,
Massen von verspritzten Hirnen. In die großzügige Verschwendung
letztgenannter Organe werden denn auch die Konsumenten lebhaft einbezogen.
Und Du dachtest, das Zeigen solcher grauenerregenden Bilder schreckte
die Leute ab? Das Gegenteil, lieber geistiger Vater, das Gegenteil!
Es bringt die erst mal richtig in Stimmung! Texas Chainsaw Massacre
– Blutgerinnsel, Eiterbatzen, hei – wie da die Mäuler
schmatzen!
Und die erlebte Gewalt wird auf die Straße getragen von ach
so frustrierten Jugendlichen, die vor lauter Hormondrang, vor Unfähigkeit,
sich adäquat zu artikulieren und vor purer Dummheit nicht mehr
wissen wohin mit ihrem Übermut!
Nein, das Konzept ging nicht auf. Erkläre dem Volk den Schundwert
des Schundes und sie fressen dich roh! Oder sie spucken dich aus!
Oder sie hören dir nicht zu! Oder sie konsumieren es heimlich,
mit einem entschuldigenden Gestammel und einem verlegenen Grinsen
im Gesicht: „man muß doch auch mal was anderes, nicht
wahr, was bißchen Seichteres, nicht immer nur das Anspruchsvolle…“
Vater Tucholsky, sie haben begriffen. Nein, nicht die Doofen. Die
werden nie nichts begreifen! Jene, denen Du schon vor’s Schienbein
tratest, die haben zugehört.
Als wahre Musterschüler haben sie ihre Lektion gelernt. Ganz
prima! Eins, setzen!