Ein „friedlicher“
Abend
Akinokawa Michi san
Die Alten hätten es ein
„Idyll“ genannt. Als ich die Redaktionsräume verlasse,
um noch ein paar Schritte hinunter durch den Park zum See zu gehen,
sitzen zwei Katzen auf dem Weg, spielen miteinander. Der Weg über
den kleinen Hügel im Park ist mit uralten, aufrecht gestellten
Ziegeln gepflastert. Eine kleine Biegung, dann geben die im Frühlingsgrün
geschmückten Büsche den Blick auf den See frei. Weitgestreckt
liegt er da. Ein kleiner Damm führt in Fortsetzung des Ziegelweges
hin zu einer künstlich aufgeschütteten Insel, die wir in
Erinnerung an unser Prinzeßchen Rattchens Insel getauft haben.
Ein Rehbock steht neben mir und beobachtet mich mißtrauisch,
aber ruhig. Weiter unten, im Schilf, dicht am Ufer weidet ein anderer.
Auch er lugt verstohlen zu mir hinüber. Später, wenn ich
schon auf Rattchens Insel stehen werde, wird er mit einem kehligen
Bölken in den Abend hinaus rufen. Ob nach seinen Kameraden, ob
nur so für sich selbst – wer weiß das schon!
Ein satter Vollmond lugt wie von Micha Sowa gemalt durch das Geäst
einer Weide. Das Wasser im Weiher links neben dem Deich ist spiegelglatt.
Rechts kommen ein paar träge, lange Wellen herein, die gemächlich
an der Biberburg vorüberziehen, um irgendwann im Schilf zu verschwinden.
Nach Osten zu wird der Himmel dunkler, violett, um irgendwann am Horizont
in einen schmalen Streifen Nachtblau überzugehen.
Die einzigen Geräusche stammen von den vielen Vögeln: Der
Reiher, der sich unterhalb der Biberburg aufgestört fühlt
und davon flattert, die Spatzen, die aufgeregt im Weidengebüsch
zanken, die beiden Amseln, die sich von Ast zu Ast jagen, die Singvögel,
die nicht etwa zum höheren Lobe Gottes tirillieren, sondern ganz
einfach ihr Revier akustisch abstecken und paarungswillige Weibchen
auf sich aufmerksam zu machen suchen.
Ein achtbeiniger Jäger kreuzt geschwinden Schrittes meinen Weg.
Über mir hat sich ein Schwarm dicker, junger Mückenweibchen
zum Tanze erhoben. Scheinbar ziellos gaukeln sie durch die Luft. Doch
das ist ein Irrtum. Sie wissen ziemlich genau, wohin es ihre präzisen
Sinne zieht: Blut, Blut und nochmals Blut. Der Hecht, der in dem noch
eben spiegelglatten Weiher aufsprang – tat er es aus purer Lebensfreude?
Wir sollten die Plötze fragen, deren silbrig glänzendes
Schuppenkleid für den Bruchteil einer Sekunde im milden Mondlicht
aufblitzte. Ein friedlicher Abend… Doch nicht für alle,
wie es scheint. Unter der Wasseroberfläche tobt ein erbitterter
Überlebenskampf, an dem sich das Litzenpärchen munter beteiligt
– schwupp und abgetaucht sind sie. Die Plötze, die dem
Hecht vielleicht gerade noch ausgekommen ist, muß sich vorsehen.
Nicht alles Gute kommt von oben.
Dann wird noch ein Pärchen Stockenten von einer Litze attackiert.
Es erhebt sich unwillig schnatternd nach längerem, über
das Wasser patschenden Anlauf kurz in die Luft, um dann wieder rauschend
einzutauchen, in die tragenden Fluten.
Da – wieder! Der Rehbock vom Schilfgürtel ruft, kehlt heiser
durch die abendliche Stille. Ärgern ihn die Dasen, die Zecken
– das ganze widerliche, blutsaugende Gelichter?
Für die Spinne ist die Jagd zu Ende. Der Star kam schnell herabgeschossen,
pickte einmal zu und – aus war’s.
Warum ich das alles sehe? Und wenn, warum ich es erzähle? Raub
und Mord und Totschlag – ich oder du, der friedlichste aller
Abende ein Vorhof zur Hölle? Das verdirbt die Stimmung, nicht
wahr? Das schlägt auf den Magen.
Möglicherweise meinten die Alten genau dieses Gefühl, als
sie die Geschichte von dem Apfel vom Baum der Erkenntnis ersannen.
Die einen sehen nur, was sie sehen wollen. Die anderen hingegen sind
verdammt zu sehen, was sie besser nicht sehen wollen! Aber es ist
das Leben.
Scheint der Abend mir oberflächlich betrachtet friedlich, weil
ich am Ende der Nahrungskette stehe, mein Brot aus dem Konsum hole
und meine Wurst desgleichen? Niemand bedroht mich. Selbst von den
hirnlos dahinkrakeelenden Jugendlichen jenseits des Kirchhofes droht
mir keine Gefahr. Was also habe ich zu monieren?
Ich weiß es nicht. Aber es ist der Verlust der unschuldigen
Augen des Kindes, das des wahren Gesichtes der Welt nicht gewahr wird.
Es ist ein Teil des Verlustes des Paradieses, dieses verdammte Apfelfressen.
Dennoch, liebe Urmutter Eva: Frei bist du von Schuld! Ich lasse lieber
die Pforten des Paradieses hinter mir, als gefangen zu bleiben in
einem irrealen Traume, süßlich, klebrig – gleichwie
in einem Spinnennetz.
Es ist nur ein großer, unwirtlicher Steinbrocken da oben, der
leise und versonnen die immer dunkler werdende Landschaft bescheint.
Aber es ist der Mond! Es ist der wundervolle Begleiter der Menschen
und der Kreatur, der so bezaubernd von Matthias Claudius besungen
wurde und von so vielen anderen großen Geistern. Und er bleibt
schön, wie er es immer war.
Der Rehbock wird dafür kein Auge haben, sowenig wie die Zecke
an seinem Vorderlauf, die Nakelente auf dem See, der Star in der Weide
und auch nicht das verspielte Kätzchen, das mir noch eine Weile
gefolgt ist.
Aber ich hab’s. Ich habe dieses Auge und meine Seele sieht das
alles. Und ich bin nicht sauer darüber. Wirklich nicht.