Gemetzel im Käfig
– Gladiatorencircus der Neuzeit
S. M. Druckepennig
Die schaurige Volksbelustigung
im Kolosseum und den Provinztheatern des Alten Roms galt lange Zeit
als Inbegriff antiker Barbarei in einem doch sonst so kultivierten
Staate.
Wir Menschen der Neuzeit stehen natürlich weit über dieser
viehischen Roheit, wir haben Kultur und eine Hochzivilisation, spenden
für die Opfer von Hungersnöten und Tsunamiwellen und haben
zweitausend Jahre christlicher Moral für uns gepachtet. Hurra!
Fort mit Gewalt und Grausamkeit – es lebe die Feinsinnigkeit
und das Miteinander!
Und während wir gerade dabei sind, die idiotischen Stierquälereien
der Spanier zu verdammen, die Hahnenkämpfe und die Hundehatzen,
die bösen Beißereien der Ganter im Livländischen,
während wir uns über all diese entmenschten Zeitgenossen
erregen, die offensichtlich noch in der Antike hängengeblieben
sind, da erlauben deutsche Behörden so ganz offiziell einen „Kampfsport“,
der wegen seiner Brutalität und Regellosigkeit noch bis vor kurzem
verboten war. Was für ein Kampfsport das ist?
Nein, kein Judo, Karate, Aikido, auch kein Ringen oder Boxen. Nicht
mal Thai-Boxen. Bei all diesen Sportarten gibt es einen ganzen Regelkanon,
der darauf ausgelegt ist, Leben und Gesundheit der beiden Kontrahenten
weitestgehend zu schützen. Es geht um Fairplay.
Es handelt sich nicht einmal um das hirnrissige Wrestling der Amerikaner.
Den Wrestling-Kämpfern muß man bei aller Geringschätzung
wenigstens zugute halten, daß sie artistische Leistungen vollführen,
viel Show bieten, und den Gegner selten ernsthaft verletzen. Bei diesem
Cage-Fighting aber geht es um die nackte, regellose Gewalt. Es sind
Schlägereien ohne Limit. Lediglich die Genitalien und die Augen
sollen nach Möglichkeit geschont werden. In einen Käfig
gesperrt gehen zwei männlich Nackte Affen, die für sich
sicher reklamieren, Menschen genannt zu werden, völlig enthemmt
aufeinander los. Blut wird gewünscht. Von wem? Von den Gaffern,
den Bestien außerhalb des Käfigs.
Wenn es also Gründe gab, diese Entgleisung menschlicher Unkultur
zu verbieten, warum gestattet man sie dann jetzt?
Die Behörden argumentieren, das „Cage-Fighting“ würde
sowieso betrieben, da wolle man es lieber unter Kontrolle haben. Klingt
das nicht nach der niederländischen Kapitulation vor dem Drogenkonsum?
Wenn ein „Sport“ so hartnäckig betrieben wird, daß
er sich trotz seines elenden Charakters gegen den Widerstand staatlicher
Behörden durchzusetzen vermag, dann muß er auch über
ein entsprechendes Publikum verfügen, nicht wahr? Bis auf ganz
wenige Ausnahmen wird sich niemand freiwillig die Fresse einschlagen,
die Knochen brechen, die Gelenke verdrehen lassen. Die Gestörten,
die sich diesem Treiben widmen tun das für Ruhm und Ehre und
vor allem – für Geld! Geld, Geld und immer wieder Geld.
Und nur ein Publikum bringt Geld.
Also muß es eines geben! Und es gibt eins.
Neben Halbstarken sitzen junge Weiber, der Physiognomie nach hirnlose
Tucken, maßlos erregt von dem schauerlichen Geprügel und
unter ihnen sahen wir eine Krankenschwester mittleren Alters in Begleitung
ihres Gatten, deren einziges Problem darin bestand, daß zwischen
den einzelnen Kämpfen so lange Pausen herrschten. Ansonsten –
die pure Begeisterung.
Ja, liebe Zeitgenossen. Hier brechen nicht nur die Knochen moderner
Gladiatoren, hier bricht vor unseren Augen ein Mythos zusammen. Der
Mythos nämlich, daß unsere Gegenwart erwachsen geworden
sei.
Nein, meine Damen und Herren! Sie blieb dieselbe, diese stumpfsinnige
nach Blut brüllende, saudumme Masse, dieses Vieh „Dummheit“.
Das ist die Masse, mit der man jederzeit ein Pogrom zu initiieren
in der Lage ist.
Noch töten sie einander nicht – jedenfalls nicht absichtlich.
Noch kämpfen sie nicht gegen wilde Tiere, noch fehlen die Autodafés.
Aber das Publikum steht bereit. Es hockt in seinen Startlöchern
und lechzt den herrlichen Zeiten entgegen, in denen der Andere, das
arme Schwein, vor ihren Augen zerrissen wird.
Wo wird es enden? Wir wagen keine Prognose.
Wir wissen, daß jenseits aller Legalität selbst sogenannte
Leistungsträger der Gesellschaft nicht vor Kindesmißbrauch
„gekaufter“ oder „gestohlener“ Kinder zurückschrecken,
ja, sich geradezu zu diesem Zwecke organisieren. Das ist kein Monopol
des geistig retardierten Plebs.
Wenn der entsprechende Druck in der Gesellschaft aufgebaut ist, dann
wird auch der geschlechtliche Umgang mit Minderjährigen wieder
salonfähig. Dazu ist kein Wertewandel nötig. Denn das Abendland
gibt seine mühsam errungenen Werte zu einem Schleuderpreis frei.
Die Unbarmherzigkeit der von einem entfesselten und global agierenden
Kapital geprägten Gesellschaft überträgt sich bis hinunter
in ihre kleinsten Elemente. Jeder trachtet danach mitanzusehen, wie
auch dem Nachbarn die Zähne ausgeschlagen werden, auf daß
man nicht allein im gefühlten Elend stecke. Der Druck von oben
muß abgeleitet werden, grad’ wie über die Pfeiler
einer gotischen Kathedrale. Keiner kommt auf die Idee, diesem Irrsinn
entgegenzutreten. Und die Behörden, die dies von Amtes wegen
tun müßten, kapitulieren abschnittsweise und wollen begrenzen,
wo sie längst nichts mehr verhindern können.
Eine Krankenschwester, deren Beruf es ist, Kranke bei deren Genesung
zu unterstützen, delektiert sich daran, wie vormals Gesunde in
einem Käfig krank gedroschen und getreten werden.
Dieser Käfig erscheint uns symptomatisch. Er ist die Modellausgabe
unserer Zukunft.