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Bretter, die die Welt bedeuten
– zum 2. Untersuchungsausschuß 2005 des Deutschen Bundestages (genannt Visa- Untersuchungsausschuß)

J.-F. S. Lemarcou
Der Kaiser Joseph II. von Habsburg soll anläßlich eines Stückes von Mozart zum Kompositeur einst gesagt haben: „Zu viele Noten, lieber Mozart, zu viele Noten. Das menschliche Ohr kann nur eine begrenzte Zeit zuhören.“
Nicht zufällig kam mir die Erinnerung an diese Anekdote, als ich im Auftrage der Redaktion dem Verlauf des Visa- Untersuchungsausschusses folgte. Der Auftrag an sich war mir nicht unangenehm. Ich bin ein politisch interessierter Mann mit Gefallen am Theater. Aber von Moliere oder Sophokles bin ich anderes gewöhnt.
Was geht hier vor?
Im Hauptteil des Zweiten Aktes nimmt der grüne Herr Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herr Joschka Fischer vor dem Untersuchungsausschuß in Berlin zu der enormen Panne Stellung, die dem Auswärtigen Amt unter seiner Rigide in den Jahren 2000-2003 unterlief und vielen Kriminellen, Prostituierten und Schwarzarbeitern den Zustrom nach Deutschland bzw. in den Geltungsbereich des Schengener Abkommens ermöglichte.
Es hat alles in seiner Grundidee ein vernünftiges Fundament: Die Demokratie muß Kontrolle auf ihre Entscheidungsträger und Spitzenrepräsentanten ausüben. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß ist ein großartiges Instrument. Selbst ein Vizekanzler, ja auch ein Kanzler müssen, wenn sie vor den Ausschuß zitiert werden, Rede und Antwort stehen. Und gnade ihnen Gott, sie werden bei Falschaussagen gestellt. Dann trifft sie möglicherweise die gesamte Härte des Gesetzes. Ich sage betont „möglicherweise“, denn wir wissen ja seit dem Auftritt unseres verehrten Herrn Altbundeskanzlers Dr.Kohl vor dem Parteispendenuntersuchungsausschuß, daß ein rechtswidriges Verhalten eben nicht zwingend dazu führen muß, daß Justitia entsprechend ihres Auftrages ihres Amtes waltet.
Ich bin neugierig. Schließlich ist es ja das erste Mal, daß das Deutsche Fernsehen live vom Geschehen während der Zeugenvernehmung berichtet.
Wie funktioniert das? Es werden also Abgeordnete aller Parteien, die im Deutschen Bundestag vertreten sind, zu einem Gremium zusammengefaßt, welches ähnlich einem Richterkollektiv eine Untersuchung zu dem entsprechenden, strittigen Sachverhalt durchführt. Daraus ergibt sich die Art des Verfahrens. Jedem zu diesem Gremium berufenen Abgeordneten wird eine gewisse Zeit zugestanden, an den jeweilig geladenen Zeugen Fragen zu stellen, die Licht in die fraglichen Hintergründe bringen sollen.
Und nun geht’s los!
Wir finden im Verlauf dieses Untersuchungsausschusses kaum ernsthafte Sachaufklärung. Sie steht eindeutig hinter parteipolitischen Formulierungen zurück. Die Interessen, die Regierung und Opposition gegeneinander treiben, prallen auch hier zusammen. Das ist menschlich, das ist verständlich, das ist vielleicht auch ganz gut so. Denn anders ließe sich parlamentarische Kontrolle kaum gewährleisten. Doch dann soll man das Kind beim Namen nennen und nicht die Bühne unter falschen Prämissen aufbauen. Wir sehen hier ein Stück, das so auf dem Programmzettel nicht angekündigt war. Doch weiter!
Vor einem Gericht läuft es ja auch im Grunde genauso. Staatsanwalt und Anwalt des Beschuldigten vertreten konträre Auffassungen und verfolgen unterschiedliche Ziele. Am Ende jedoch muß eine Wahrheitsfindung stehen, die dem wirklich Geschehenen so gerecht wie möglich wird.
Und außerdem hat die Staatsanwaltschaft in einem Gerichtsverfahren die juristisch und in der Strafprozeßordnung verankerte Pflicht, auch den Delinquenten entlastende Fakten zu eruieren und anzuführen. (Wie oft dieser Pflicht in praxi mit der gebotenen Ernsthaftigkeit nachgekommen wird, das sei Gegenstand einer anderen Diskussion…)
Dieser Gedanke aber sollte in so einem Gremium, wie einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß, ebenfalls zum moralischen Prinzip erhoben werden. Eine solche Forderung ist schon einer Kultur der politischen Fairneß geschuldet.
Aber dergleichen ist in diesem Verfahren, wie ich bedauernd konstatieren muß, so selten wie ein Gemüsebeet auf dem Mond. Es ist tragisch.
Die Partei- und Koalitionsfreunde tragen nur vor, was dem Befragten nutzen könnte; die Oppositionsvertreter lassen nichts unversucht, dem politischen Gegner, der vor ihrer Flinte nun im Fadenkreuz wie auf dem Präsentierteller sitzt, mit belastenden Schriftstücken und Argumenten die Hölle heiß zu machen. Und auf einmal wird klar, worum es wirklich geht: Hier drin wird die Politik nahtlos fortgesetzt, die schon im Plenum des Bundestages und in den Wahlkampfveranstaltungen zu oft so unerquicklichen Auswüchsen im Umgang miteinander führt.
Hier geht es – wie auch sonst – um die Macht. Und nur um die Macht und um nichts anderes! Herr von Klaeden, Frau Noll, Herr Uhl, Frau Hoffmann, Herr Kauder, Herr Binninger, Herr Montag, Herr Grindel, Herr Scholz und nicht zuletzt die vorgeladenen Zeugen fechten hier auf einem Nebenkriegsschauplatz um die nächsten Wahlen.
Herr von Klaeden beispielsweise ist ein gelernter Anwalt und ein brillanter noch dazu. Man merkt es – der Mann hat einen geschliffenen Verstand und ist ausgezeichnet vorbereitet, wie auch der Rest der aktiv Beteiligten. Doch man wird bei ihm den Eindruck nicht recht los, als wäre er nicht der Souverän auf dem Schlachtfeld sonder habe statt dessen ein festes, unsichtbares Geschirre um, an dessen Zügelende Frau Merkel sitzt und darüber befindet, wie weit Herr von Klaeden gehen darf und wo Schluß ist.
Herrn Montag hingegen unterstellt man unwillkürlich, daß er ein Persilpaket unter dem Tisch verstaut hat, um Herrn Fischer blütenweiß zu waschen. Keine kritische Anmerkung kommt über seine Lippen. Ein beinahe militanter Apologet seines Parteigenossen, ficht er wacker gegen seine Gegner auf der „Vernehmerbank“, statt sich ernsthaft um die Aufklärung des Eklats zu bemühen.
Wahlen werden an dieser Stelle entscheidend vorbereitet. Das Konzept geht auf, denn ein Millionenpublikum ist dem Spektakel sicher. Weil es neu ist. Weil ganz „hohe Tiere“ auf der „Anklagebank“ sitzen und Michel sehen will, wie es „denen“ auch mal an den Kragen geht. Wie werden sie sich herauswinden, wenn man sie mit knallharten, belastenden Fakten konfrontiert?
Doch die Kampfspiele der Giganten haben einen unangenehmen Beigeschmack: Der Standard des Schlagabtausches, pardon, des Frage- Antwort- Procederes sinkt häufig unter Erstkläßlerniveau. Viele Beiträge werden häufig wörtlich wiederholt. Ist der Gegenüber schwachsinnig? Oder hört er schlecht? Oder schätzt man ihn so ein?
Von der Seite des als Beschuldigten zu betrachtenden Herrn Außenminister wird rumgeeiert, es wird laviert, es wird gedruckst und es wird drauflos behauptet, daß es einem übel wird. Je klarer die Oppositionsvertreter ihre Fragen formulieren, je fundierter sie sind, desto mehr sucht Herr Fischer auf Nebensächlichkeiten auszuweichen um der zwingenden Beantwortung zu entgehen. Das Ganze ist an peinlicher Fadenscheinigkeit kaum zu überbieten. Er schmollt drauflos, wie infam die Fragen seien und daß sie persönlich beleidigenden Charakter hätten. Was für ein unwürdiges Spielchen!
Doch ein Fuchs ist er. Das muß der Neid ihm lassen.
Dabei nutzt er gnadenlos die wenig zupackende Schwäche der wirklich gut vorbereiteten Oppositionsvertreter aus. Er ist sich seiner selbst und seiner Sache ja so sicher!
Und er weiß – sie können ihm nichts! Was wollen sie denn? Was wollen sie ihm denn tun? Und das weiß er. Rücktrittsbegehren? „Na, Sie wollen doch meinen Kopf. Deswegen sitze ich doch hier! Dann holen Sie ihn sich doch! Stellen Sie im Parlament einen entsprechenden Antrag, wenn Sie den Mut dazu haben, meine Damen und Herrn!“ Das ist Verhöhnung eines Untersuchungsausschusses pur! Denn es ist ihm absolut klar, daß sie diesen Antrag tunlichst nicht stellen werden. Zu sehr ist der Herr Bundesaußenminister in die internationalen Verbindungen der Bundesrepublik Deutschland integriert. Zu sehr fungiert er als Galionsfigur der rot-grünen Regierung. Daran ändern auch die derzeitigen erdrutschartigen Popularitätsverluste nichts. Noch nicht…
Also läßt er die Herrn Rechercheure wie die abzurichtenden Hunde in den Lederärmel beißen. Keift ein wenig retour um sie noch richtig scharf zu machen und – hat an allem seine unverdrossene Freude. Er ist hier in seinem Element. Er ist die Diva, die Primaballerina auf diesem Parkett, und so entblödet er sich keineswegs, seinen Zeugenstuhl des Öfteren in das Rednerpult des Plenarsaals zu verwandeln. Es werden keine sachbezogenen Auskünfte mehr gegeben. Es wird politische Polemik betrieben. Herr Uhl, als Vorsitzender, erweist sich bei weitem zu schwach, um mit harter Hand den mächtigen Zeugen seiner wahren Aufgabe und seiner untergeordneten Stellung vor diesem Ausschuß des Souveräns und Hohen Hauses zu verweisen. Einmal dreht er Herrn Montag, der als Zeugenbeistand so aggressiv auftritt, wie es den Aufklärern zugekommen wäre, das Mikrophon energisch ab. Doch es war das einsame Fauchen eines hilflosen Katers, wo das Brüllen eines Löwen obligat und angebracht gewesen wäre. Und – Herr Uhl war seinen Parteigenossen ein schlechter Alliierter: Immer, wenn es so aussah, als hätten sie Herrn Fischer am Kragen, als müßten sie jetzt nur eine entscheidende Frage nachlegen, nur noch zupacken, anrucken, den Fisch(er) aus dem trüben, schlammigen Wasser ziehen, in dem ihm so wohl ist als wie hundert Welsen… – beendete er ihre Fragezeit. Herr Fischer konnte durchatmen.
Da war Herr Uhl korrekt. Einen entgleisenden und polemisierenden Zeugen aber in die Schranken zu weisen, das war ihm denn doch eine zu große Kragenweite. Der vorgetragene normative Anstand, der sicher im Umgang von Parlamentariern miteinander seine absolute Berechtigung hat, ist bei der Aufklärung von gravierenden Fehlern zu Lasten der Bevölkerung völlig fehl am Platze. Schließlich hat der Herr Vizekanzler und Bundesaußenminister bei seinem Amtsantritt geschworen, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden. Hat er das aus vermeidbaren Versäumnissen heraus nicht getan, so muß man ihn bei diesem Eide packen, wie einen jeden anderen auch. Nur dann ist Demokratie ernst zu nehmen. Nur dann. Alles andere ist Schmierentheater.
So sehen wir also einem Schachspiel zu, bei dem die Figuren aktiv agieren, obgleich sie ein wenig hilflos über das Spielbrett stolpern. Die Züge der Gegner werden strategisch vorgeplant, man hält sich gegenseitig die Vorbereitung vor, man tjostiert aufeinander los – nur auf eines werden wir lange aber vergeblich warten müssen. Das auch nur einer der Gegner sich die konträre Position des Gegenübers auch nur um ein Jota zueigen macht. Denn auch ein solches Gebaren würde demokratische Reife attestieren. Kein auch noch so kleines Zugeständnis, kein auch nur winziges Bemühen, den anderen in seiner Lage verstehen zu wollen. Das wäre ja auch extrem kontraproduktiv. Es geht ja schließlich nicht um die Interessen des Volkes, wie es pausenlos getönt wird – es geht nur um die Eigeninteressen der gegenwärtigen Machthaber und derer, die auf die Erlangung der Macht spekulieren. Machterhalt und Machtverlust und Machtgewinn – das sind die einzigen konstanten Variablen dieses Schauspiels.
Sensibilisiert die Hinzuziehung der Television nun die breite, politisch uninteressierte Masse für das Geschäft der hohen Politik? Ich bezweifle das. Macht das Fernsehen die Politik transparenter? I bewahre! Hier werden doch keine realen Minenfelder betreten. Von keiner Seite! Wenn es wirklich zu Sache geht, wie beispielsweise bei Herrn Grindels Nachfrage, was man sich denn konkret unter dem Begriff des „Nachsteuerns“ beim aus dem Ruder gelaufenen Notenstellungsverfahren in Moskau und St.Petersburg vorstellen darf, meint Herr Fischer lakonisch: „Nachsteuern!“ Schwubs! Das Skatblatt wird verdeckt – nix mehr mit Null ouvert! Hier wird knallhart gemauert. Oh, ihr vier Wenzel vom Altenburger Skatbrunnen, verhüllt eure Gesichter!
Wie kann man eigentlich mauern, wenn das Blatt offen auf dem Tische liegt? Wenn ein Staatsanwalt der Bundesrepublik aussagt, brisante Akte wären ihm in prozeßverschleppender Taktik erst nach den Zeugenvernehmungen und mit vierzehn Monatiger Verspätung vom auswärtigen Amt überstellt worden. Eine Aussagegenehmigung (!) von seiten dieser Beamten wird erst erteilt, nachdem die Staatsanwaltschaft dargelegt hat, welche Fragen sie denn zu stellen beabsichtigt. Das muß man sich mal vorstellen. Wo leben wir denn? Bedienstete des deutschen Volkes stellen sich dem dringenden Anschein nach über das Gesetz und die unabhängige Justiz ihres Ernährers und Brötchengebers- ebenjenen deutschen Volkes! Hier drängt sich der hammerharte Verdacht auf, daß von vereidigten Staatssekretären und anderen hohen Beamten systematisch Justizbehinderung zum eigenen Vorteil betrieben wird. Ein ungeheuerlicher Vorwurf! Der Herr Bundesaußenminister stellt sich auch noch demonstrativ – und wahrscheinlich nicht zuletzt im wohlbegründeten Eigeninteresse hinter sein Personal und begründet diese Infamie mit einer Fürsorgepflicht gegen die Beamten von seiten des Auswärtigen Amtes. Das ist der Gipfel.
Wenn sie den beschriebenen Sachverhalt als minder dramatisch oder zu abstrakt einstufen sollten, dann stellen Sie sich doch vor, Sie stünden im Tatverdacht, eine alte Frau niedergestoßen zu haben und ihr zwanzig Euro gestohlen zu haben. Die Staatsanwaltschaft bestellt Sie zur Vernehmung ein und Sie lassen Sie erst mal vierzehn Monate warten und teilen ihr währenddessen mit, daß Sie überhaupt Ihre Zustimmung zu der Vernehmung davon abhängig machen, daß die Staatsanwaltschaft Ihnen im Vornherein mitteilt, was sie überhaupt von Ihnen will. Doll was? Ich sage Ihnen, was passieren würde. In Nullkommanichts stünde ein Polizeiwagen vor Ihrer Türe und Sie verschwänden umgehend in einer Zelle: Ausnüchterungszelle, Untersuchungshaftzelle oder Gummizelle!
Wir müssen uns also fragen, wird hier wirklich die parlamentarische Kontrolle ausgeübt, die bei der Entwicklung eines solchen Verfahrens angedacht war? Ich bin davon nicht überzeugt. Das hier führt zu nichts. Nichts für uns, die wir als Wähler doch alle vier Jahre mal den Souverän mimen dürfen. Für die Machtpokerer aber bringt es schon etwas. Zumindest, wenn sich der Wähler zum stumpfsinnigen Stimmvieh degenerieren läßt. Dann aber läßt sich nur bedauernd feststellen. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.

5. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005