Klassentreffen
Jules-Francois Savinien
Lemarcou
Fünfundzwanzig Jahre hatten
manche von ihnen sich nicht mehr gesehen. Das ist ein Vierteljahrhundert.
Eine lange Zeit. Nun hatten sie sich für den Samstagvormittag
vor ihrer alten Schule verabredet. Einige der Lehrer waren auch dabei.
Bemerkenswert. Man begrüßte sich. Man musterte sich. Und
man erkannte sich wieder. „Sieh mal einer an. Kaum verändert,
die Physiognomie – altes Haus!“ Neuntausend Tage beinahe
spurlos an den Menschen vorbeigegangen? Neuntausend Tage – das
ist eine lange Strecke Weges.
Wie hat man sie genutzt, welche Blumen am Wegesrand gepflückt,
welche stehengelassen?
Bei diesem Treffen war Herr Fjøllfross dabeigewesen. Schwer
ist es ihm gefallen. Schon Tage vorher lief er ’rum wie Falschgeld.
Der Visa-Untersuchungsausschuß und ein paar Projekte hatten
ihn etwas abgelenkt – und doch: Wer ihn kannte, der sah es ihm
an. Es rumorte in ihm, es wühlte, es arbeitete.
Am Vorabend seines Treffens gelang es mir dennoch, den Chef auf ein
Fläschchen Cliquot-Noir zurückzuhalten. „Einen Tokajer“,
grunzte er verdrossen, „lieber Lemarcou, haben Sie denn keinen
Tokajer?“ Doch dann setzte er sich schwerfällig, sah dem
in die langen, barocken Flöten perlenden Wein zu und meinte kummervoll:
„Wissen Sie, lieber Lemarcou, mein Oheim pflegte zu mir zu sagen:
Wenn Du vierzig bist, Junge, und du wachst morgens auf und hast keine
Schmerzen, dann weißt du – daß du tot bist. Zumindest
das habe ich zuwege gebracht. Ich wache morgens auf, habe meine Schmerzen
und freue mich darüber. Ernsthaftere Leute aber haben mir gesagt,
mit vierzig müsse man „es“ geschafft haben. Nun sagen
Sie mir, Lemarcou, was ist „es“!“
Ich grinste ihn an: „Liegt doch auf der Hand! „Es“
– das ist „mein Haus, mein Garten, mein Auto, meine Familie,
mein Swimmingpool – kurz, es ist der Rückblick auf das
im Leben Erreichte.“ Der Alte war bleich. Aber seine Augen blickten
mich unverwandt und fest an.
„Sehen Sie“, sagte er versonnen „das bereitet mir
Kummer. Denn eigentlich denke ich ganz genauso. Und mitunter entartet
ja so manches Klassentreffen zum Jahrmarkt der Eitelkeiten. Dieses
wohl nicht. Die Leute sind nicht danach. Alles feine Menschen. Und
dennoch... Wissen Sie, man steht da ja irgendwo vor sich selbst gerade.
Das, was einen die anderen nicht fragen – aus Höflichkeit
oder mangelndem Interesse, das fragt man sich selbst bis zum Überdruß.
Das ist es ja eben. So ein Klassentreffen ist einem ein unumgänglicher
Anlaß, vor sich selbst zu resümieren. Man kommt nicht daran
vorbei. Wer sind wir, lieber Lemarcou, wer sind wir und was macht
uns aus?“
„Chef, was sind das für trübsinnige Gedanken? Wofür
wollen Sie den Kopf einziehen? Daß Ihre Doktorarbeit bis dato
unvollendet und unverteidigt geblieben ist? Daß Ihre Blütenträume
unerfüllt blieben? Mon Dieu, Monsieur le Chef, Sie sind in den
Malstrøm hinabgetaucht und haben überlebt. Ist das nichts?“
„Was hatte ich im Malstrøm verloren, mon ami? Ich hätte
mich um das Leben kümmern müssen, statt in den Vorhof zur
Hölle hinabzutauchen.“ So sprach er, hob das Glas und betrachtete
den tiefroten Wein im Gegenlicht seiner Schreibtischlampe.
Am nächsten Abend aber, heimgekehrt von jenem Treffen, kam er
noch niedergeschlagener in die Redaktion zurück, als er ausgezogen
war. „Sind alle was geworden, ganz respektable Leute“,
verkündete er uns. „Zwei Oberärzte, ein Habilitierter,
ein ganzes Rudel Lehrer und Pädagogen, Ingenieurs und Makler
und Beamte - alle was geworden. Und wir ringen mit den Engstirnigkeiten
vom DJV um unsere Presseausweise. Wollen uns nicht mal als ordentliche
Journalisten akkreditieren. Weil wir ihnen nicht nach dem Maul reden!“
Er ließ die am Vortag angebrochene Flasche Cliquot-Noir stehen
und langte den Lagavulin aus dem Schreibtisch.
„Das ist doch nebbich alles nichts, Herr Fjøllfross“,
meinte Herr Druckepennig zu unserem Schriftleiter. „Wo bleibt
Ihre zisterziensische Gesinnung? Wo sind ihre japanischen Gärten?
Seneca, Sen-no-Rikyu, der Cha-Do, wo ist die Stoa?“ Der Alte
winkte müde ab.
„Das ist es nicht. Man hat Titanenkämpfe bestritten, man
hat gewonnen, man hat verloren und am Ende fragt man sich, was bleibt
übrig? Man hat unglaublich gewaltige Energien am falschen Ort
eingesetzt und am Ende verballert. Was bleibt am Ende übrig?
Man schimpft so manch Einen ein hirnloses Rindviech, weil er scheinbar
gedankenlos in den Tag hinein lebt. Tut er das wirklich? Oder verschwendet
er bloß nicht seine Zeit mit überflüssigen Gedanken,
Sophistizierereien, Philosophien? Konzentriert er sich am Ende gar
auf die Anforderungen, die sein privates Vorwärtskommen an ihn
stellt und bringt es zu was?“
„Ja, da wären wir am Punkt, an dem wir begonnen haben,
Chef“, ließ ich mich vernehmen. „Zu „was“
kann man es bringen?“ Fjø sah mich nachdenklich an: „Dauerhaftes
Glück vielleicht, so ein beständiges, wissen Sie. Ich meine
nicht den ewigen Sonnenschein, das stete Aufwärtskommen. Jeden
drückt irgendwo der Schuh. Aber wie man damit umgeht, wie man
sich bewegt auf dem Parkett des Lebens, das ist die Frage!“
Herr Druckepennig ergriff sein Weinglas, nachdem er sich vom Roten
eingeschenkt hatte und nahm einen guten Zug. Dann wies er auf das
Glas und fragte in Richtung des Alten: „Halb voll oder halb
leer, Herr Fjøllfross?“
Der Chef lächelte: „’N bißken is woll noch
drin. Ja, da schwimmt die schönste Behausung, die ich je mein
eigen nannte, in einer paradiesischen Umgebung, in ihr die Redaktion
des Landboten und ein Spiegel, in den ich noch immer jeden Morgen
– verzerrt von allen meinen lebenserhaltenden Schmerzen –
hineinschauen kann, ohne mit einem Würgereiz ringen zu müssen.
Es schaut immer noch ein braver preußischer Soldat heraus. Und
es glitzern die Erinnerungen an Dinge, die man um nichts in der Welt
vermissen wollte. Um derentwillen man alles noch mal machen würde,
jeden verfluchten Schritt über all die glühenden Kohlen
der vergangenen Jahre, um derentwillen man vor dem Herrgott jede Alternative
brüsk abweisen würde, bekäme man sie denn offeriert.
Das ist nicht wenig. Da pflichte ich Ihnen bei, lieber Druckepennig!“
Er griff den golden schimmernden Scotch, blickte auf sein Etikett
und murmelte: „Sechzehn Jahre ist der jetzt alt, meine Herren.
1989 angesetzt. Da war noch alles offen. Aber es fehlten der Grips
und die Reife von heute, um die Karre zum Laufen zu bringen. Vielleicht
ist das ganz gut so. Denn hätten wir sie ohne diese beiden Attribute
ins Rollen gebracht, wer weiß, wieviel Schaden wir am Ende verursacht
hätten.“ Er sagte „wir“ und meinte „ich“.
Wenn’s ihm lausig ging, dann verfiel er schon mal in den erhabenen
Pluralis Majestatis, als ob da noch einer wäre, der ihm helfen
könne, die Last zu tragen. Aber es war keiner da. Er war allein.
Und das wußte er. Herr Fjøllfross war Pragmatiker genug,
um jeden Versuch, sich selbst über irgend etwas hinwegzutäuschen,
schon im Keime zu ersticken. „Sechzehn Jahre also... meine Herrn,
lassen wir ihn volljährig werden! Herr Druckepennig, der Cliquot
– halb voll oder halb leer?“ „Ich fürchte,
Chef, er ist ganz leer. Aber ein Fläschchen Tokajer wäre
wohl noch vorhanden.“ „Raus die Buddel, raus den Korken
– heute ist heute, gestern war gestern und morgen ist morgen!“
Und dann sprang er auf und sang mit beinahe brüllender Stimme:
„Gaudeamus igitur, juvenes
dum sumus – post iucundam juventutem, post molestam senectutem
– nos habebit humus! Ubi sunt, qui ante nos in mundo fuere?
Vadite ad superos, transite ad inferos – ubi jam, fuere! Pereat
tristitia, pereant osores, pereat diabolus, quivis antiburschius,
atque irrisores!*“
Der Schriftleiter des Preußischen Landboten stieß mit
uns auf einen „erfolgreichen“ dritten Jahrgang an und
schloß mit dem letzten Satz aus „Gripsholm“ unseres
geistigen Vaters Tucholsky, welcher seinerseits Martje Flor, die friesische
Bauerntochter, zitierte: „Up dat es uns wohl goh up unsre ohlen
Tage -!“
* drei
Strophen aus dem "Gaudeamus igitur", der paneuropäischen
Studentenhymne aus der Frühzeit des europäischen Universitätswesens
(man sagt, es stamme aus der Sorbonne). Gleichviel, auf geäußerten
Wunsch für alle des Latein nicht Mächtigen folgt hier eine
sinngemäße Übersetzung ins Deutsche: Laßt und
darum fröhlich sein, solange wir jung sind. Nach einer lustigen
Jugend, nach einem beschwerlichen Alter hat uns die Erde weg (liegen
wir in der Grube). Wo sind die, die vor uns auf der Welt waren? Schaut
im Himmel nach, sucht in der Hölle - da werdet ihr sie schon
finden. Nieder mit der Traurigkeit, nieder mit den Hassern! Nieder
mit den Teufeln, welche gegen das Burschentum gesinnt sind und desgleichen
mit den Spöttern!
Wer das "Gaudeamus
igitur" deklamiert, der erhebe sich von seinem Stuhl! Diese Hymne
trägt man im Stehen vor - diesen Respekt ist man ihr schuldig
- oder man halte das Maul! Amen