B. St. Fjøllfross
Der Weg führt mich
wieder einmal aus der Provinz in die geliebte Hauptstadt.
Ich sitze im Reichsbahnabteil eines Zuges, der langsam anfährt,
um den Potsdamer Hauptbahnhof zu verlassen. Er rollt nach
Nord-Osten, nach Griebnitzsee, nach Wannsee – nach Berlin!
Er rollt ohne anzuhalten über ehemals scharf bewachte
Gleise, eingeengt durch fürchterliche Wachanlagen. Er
rollt durch das ehemalige Grenzgebiet zwischen Potsdam und
dem „besonderen politischen Gebiet Westberlin“,
über die verschwundene Staatsgrenze eines verschwundenen
Staatsgebildes – er rollt durch die gewesene Mauer!
Sechzehn Jahre ist es mittlerweile her, daß diese Normalität
so peu a peu wiedergeboren wurde. Fast restlos ist sie inzwischen
vom Angesicht der Erde vertilgt – die elende Sperre,
die Deutschland und die deutsche Hauptstadt teilte. War sie
eine der verdienten Strafen für Deutschland, eines Landes,
das zuließ, daß seine Söhne und Töchter
zu hirnlosen und entseelten Bestien mutierten, die den Völkern
Europas und der Welt so unermeßliches Leid brachten?
Aber wenn das so ist, was ist das dann für eine Strafe,
die zu Vollstreckern wiederum die Söhne dieser Nation
zu ebenfalls mehrheitlich hirnlosen und entseelten Vollstreckern
bestellte, denen das Paradoxon anhaftete, eigentlich nur das
Beste im Sinne zu haben.
Die diese Mauer errichteten und bewachten, waren in aller
Regel Menschen, die oft bedingungslos davon überzeugt
waren, die Folgen der Verbrechen ihrer Väter von dem
Lande fernzuhalten, das sie nach dem Kriege mit der Hilfe
der sowjetischen Besatzer geschaffen hatten.
Doch was taten sie? Die DDR degenerierte zu einem anfangs
goldenen, später blechernen Käfig, der seine Insassen
unter Verschluß halten mußte, damit sie ihm nicht
davonliefen.
Der Widerspruch zu dem gebetsmühlenartig wiedergekäuten,
offiziellen Grund ihrer Erbauung war eklatant in all seiner
Offensichtlichkeit. Die Klassenfeinde, vor denen der Schutzwall
ja die Bedrohten in Sicherheit bringen sollte, wurden in Scharen
ins Land gelassen. Ihre Technologie wurde gebraucht, aber
auch und vor allem ihre Devisen. Vor den auswärtigen
Gegnern, die sich als finanzkräftige Wirtschaftsmagnaten
tarnten, kroch der kommunistische Apparat förmlich auf
dem Bauch.
Die Beschützten dagegen, denen man nicht müde wurde
zu erklären, daß sie ja eigentlich im Paradiese
lebten, die Beschützten also wurden mit Gefängnis,
gesellschaftlicher Ächtung oder gar dem Tode bedroht,
wenn sie den Wunsch äußerten, einen Blick hinter
den Eisernen Vorhang zu tun.
Die Kommunisten mußten also unverhohlen die Fratze der
Macht zeigen, um das flüchtige Volk, die blökende
Schafherde der Maidemonstranten, das Stimmvieh der Volkskammerwahlen
beieinander zu halten.
Letzteres ließ sich mit immensem Aufwand unter Kontrolle
und sogar notdürftig bei Laune halten. Da fielen ein
paar kernige Lügen nicht weiter ins Gewicht.
Schlimmer sah es da schon aus, wenn die Weltöffentlichkeit,
Freund wie Feind, auf die großen Widersprüche aufmerksam
geworden wäre. Ein Prestigeverlust in der großen
Völkergemeinschaft, den Friedliebenden auf der einen
Seite und den Dollarbesitzern auf der anderen Seite (den Dollar
liebten sie alle…) – das wäre für die
Erbauer der Neuen Welt ein schlimmeres Schreckgespenst gewesen,
als der Beelzebub selbst.
Doch gerade in dieser Mauer manifestierte sich das Versagen
der kommunistischen Träumereien in so prägnanter
Weise, daß man auf den Fidschi-Inseln zwar kaum hätte
sagen können, wo Berlin ist – die Mauer hingegen,
die kannten sie alle!
Es muß den Bolschewisten schwergefallen sein, über
die Verelendung der Massen im Kapitalismus zu agitieren. Was
gab das auch für ein Bild: Die Bettler, Stadtstreicher
und Arbeitslosen in Westdeutschland verreckten lieber langsam
vor sich hin, als in den rettenden Osten zu flüchten,
der ihnen Arbeit, Wohnraum und einen bescheidenen Wohlstand
geboten hätte. Wie war das zu erklären? (Vor allem
unter dem Aspekt, daß gerade diese Leute von der DDR-Obrigkeit
hofiert worden wären – denn nichts wäre der
DDR dringlicher vonnöten gewesen, als solches Propagandamaterial.)
Der Gipfel des Treppenwitzes von historischen Dimensionen
aber war: Viele der vom Schicksal begünstigten Paradiesbewohner
zog es in die Hölle…!
Die Verlierer des kapitalistischen Wirtschaftssystems blieben
also verstockt und uneinsichtig in die Notwendigkeiten eines
gesellschaftlichen Wandels auf ihrer Seite des Zaunes. Hieß
das nicht in Klartext übersetzt, daß sie meinten,
es müsse ihnen im maroden Osten noch dreckiger gehen,
als im Westen?
Oder wurde an ihnen die alte Fabel lebendig, die den Wolf
von einem feisten und gesicherten Hundeleben an der Kette
zurückschrecken läßt, weil ihm ein ärmliches,
unsicheres Leben in Freiheit allemal lieber ist, als ein Leben
an der Kette, voller Freßnapf hin oder her?
Sei es wie es sei. Die DDR hatte nicht das Image, von dem
sie träumte. Und darunter litt sie erbärmlich.
Doch noch mehr litten viele Menschen, die in ihr lebten. Als
besonders beklagenswert erachteten sie den Umstand, daß
sie, die „Gewinner der Geschichte“, zu keiner
minderwertigeren Arbeit befähigt als die Vettern im Westen,
von der eigenen Obrigkeit nur mit Aluchips als Währung
versehen wurden, die sie im eignen Lande und bei den „Brudervölkern“
zu Menschen zweiter Klasse degenerierte. Ihre Arbeit und Schaffenskraft
war kurz gesagt – nichts wert!
Wer ließe sich das auf Dauer bieten?
Diese Mauer, die eine Stadt zerriß, die die Verwundung
einer kranken Welt so deutlich zeigte, wie nichts sonst auf
der Welt, diese Mauer ist schlicht und ergreifend nicht mehr
vorhanden. Das Kind mit gegenüber, das mit seinen Großeltern
reist und gebannt aus dem Fenster schaut, hat keine ansatzweise
Vorstellung, wie es hier noch ein Jahrzehnt vor seiner Geburt
ausgesehen hat.
Das Kind fährt durch einen ihm unsichtbaren Schlauch,
der in früheren Zeiten nur für sogenannte Transitreisende
passierbar war. Links und rechts zogen sich die steinkalten
Mauerkolosse an der Trasse entlang, flankiert von Türmen,
Stacheldrahtverhauen, Postenwegen. Ein Durchkommen war ausgeschlossen.
Ein paar Fahrminuten weiter lag West-Berlin…
Im Zug erfolgt die Durchsage „Wir erreichen den Bahnhof
Berlin Zoologischer Garten. Fahrgäste nach… haben
Anschluß zu den Zügen… Ausstieg links.“
Mein Stichwort. Ich muß den Zug verlassen und umsteigen.
Vom Bahnhofsvorplatz sehe ich den sich drehenden Mercedesstern
auf dem Europa-Center. Wie oft ist er von sehnsuchtsvollen
Augen angepeilt worden, von drüben, von der Aussichtsplattform
des Fernsehturms zu Ost-Berlin, dem darob scherzhafter Weise
schon eine gewisse Schiefneigung nach Westen unterstellt wurde.
„Sieh mal, Gerda, da hinten, der Stern, kannst Du sehen?
Das ist der Ku’damm.“ „Ach, Heinzi-Bär,
einmal mit dir über den Ku’damm flanieren…
Nichts kaufen, nur schauen!“ Natürlich hätte
Gerda auch gern etwas gekauft – die verführerischen
Schuhe von Armani, die todchice Handtasche aus dem Wertheim,
mit der die Cousine neulich auf Besuch war, das Parfum aus
dem Douglas… Eine Mauer und das wertlose Notgeld standen
all diesen Träumen im Wege.
Seit sechzehn Jahren nun ist der Spuk vorbei. Während
ich in den U-Bahn Tunnel abtauche, entschwindet der drehende
Stern meinen Blicken.
Die Erinnerung aber und die Dankbarkeit dafür, daß
ich in eine gelbe „Untergrund“ steige, die mich
zum Sophie-Charlotte-Platz bringt – die bleibt! Solange
ich lebe!