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Die Kassierer aus dem Straßengraben - oder das Licht aus dem Hinterhalt

Don M. Barbagrigia
Unsere Frau Lektorin Katzentraum war die Erste, die ihn aus dem Redaktionsbriefkasten holte: Den Brief des Herrn K. von der Bußgeldstelle des Rathauses der Hohenzollernstadt Potsdam an unseren Alten.
Bis auf mich – ich schwöre es beim Heiligen Franz – überkam alle ein hämisches Grinsen: Den Alten hatte es erwischt! Am 20. Januar um halb neun in der Frühe. Der Blitz kam plötzlich und völlig unerwartet – von vorne. Das Photo ist miserabel, aber der Alte ist gut getroffen: Das ist dasselbe Gesicht, daß er am Tag der Gehaltszahlungen zieht, ellenlang, vergrämt und mit seinem Schicksal hadernd.
Herr Druckepennig, Urenkel armer galizischer Ostjuden aus dem Schtetl war dann auch der Erste, dessen Grinsen über beide Koteletten einer gewissen Nachdenklichkeit wich: Da ging es hin, unser monatliches Redaktionsbesäufnis!
Daß mir meine Gesichtszüge zu diesem Zeitpunkt schmerzhaft entglitten, lag wirklich nur daran, daß ich mir gerade einige Reißzwecken eingetreten hatte, just, als Frau Katzentraum den Inhalt des K.’schen Anschreibens verlas.
Der Alte verwandelte sich kurzfristig in die Reinkarnation des legendären Minotaurus, blies etwas Dampf durch die Ohren, schritt dann aber jovial lächelnd auf mich zu und sprach mit honigsüßer Stimme zu mir: „Lieber Don Miquele, Sie sind doch Sizilianer, stammen also mit Verlaub – und ohne Ihnen persönlich zu nahe treten zu wollen – aus der europäischen Hochburg des Raubes und des Organisierten Verbrechens. Wir dürfen also davon ausgehen, daß wir in Ihnen einen Fachmann für dieses Sujet vor uns haben. Wie wär’s? Ich mache Sie mit den Fakten vertraut und Sie haben das Thema für einen kleinen Lückenfüller?!“ Ich japste noch schmerzerfüllt nach Luft, als Herr Fjøllfross mir die Pranke väterlich auf die Schulter legte: „Holen Sie’s wieder rein, mein Lieber, das Geld, das wir den Wegelagerern in den Rachen schmeißen! Sonst können wir uns diesen Monat nicht mal eine Flasche Saale/Unstrut-Wein leisten. Verpassen Sie ihnen ein paar verbale, sizilianische Badelatschen! Klauen Sie nicht, schreiben Sie mal!“
Sehr amüsant! Und dieser Mann beklagt sich über Methoden der räuberischen Erpressung!
Was er zu berichten hatte, war kurz gesagt dieses: Er hatte die Zeit mit einer befreundeten Ärztin verplaudert, war spät dran, hatte das 30er-Schild am Anfang der Gutenberg-Straße absolut nicht gesehen, sondern statt dessen nur die freie Kreuzung am Ende dieser Straße. Ein Anblick mit Seltenheitswert, wie er sagte. Er mußte eine halbe Stunde später in Charlottenburg sein, also gab er noch mal so richtig Feuer und dann – wurde es hell vor seinen Augen.
Tja, dumm gelaufen, mein Lieber! 30er Strecke, 27 zu viel auf der Uhr macht € 60,- plus Bearbeitungsgebühr und drei punktförmige Vermerke in Flensburg. Da hilft dir auch nicht dein gottloses Gefluche, daß der Henker die Halunken holen möge. Sie sind im Recht! Das 30er Schild stand nun mal da, ob du es nun gesehen hast oder nicht. Du hast es nicht gesehen – dein Pech. Das mußt du, dafür bist du Kraftfahrer. Hätte ja auch eine Blage sein können, die ihrem Ball hinterher rennt. Die kannst du auch nicht einfach übersehen und umnieten, nur weil du’s eilig hast.
Und was meinst du mit Farce von einem „Anhörungsbogen“? Natürlich interessiert dein Gejammer sie einen Scheißdreck, Menschenskind, du bist in Deutschland! Seele und Menschlichkeit hat man euch im Dreißigjährigen Kriege herausgeprügelt. Hier läuft alles mechanisch ab. Durchorganisiert. Geregelt. Bis ins kleinste Detail. Menschenfresserei ist die letzte rechtsfreie Enklave. Aber sie arbeiten daran. Auch dieses Schlupfloch wird noch mit einem dicken Paragraphenzeichen gestopft.
Mit einem Polen kannst du reden, mit einem Russen oder Franzosen oder Spanier. Man kann sich verständigen. Hier in Deutschland zählt nur, daß der Eichtermin fürs Radarmeßgerät einen Tag über’s Datum war, oder der rechte Hinterreifen des Radarwagens einen Millimeter zu wenig Profil hatte und damit zwei Zentimeter zu nah am 30er Schild stand. Hier zählt, daß die Bearbeitungsfrist um anderthalb Minuten abgelaufen ist, sonst gar nichts. Wenn du irgend etwas davon nachweisen kannst, oder einen Verfahrensfehler findest, dann mein Lieber bist du fein raus. Dann beißt sich die Deutsche Bürokratenhydra mit all ihren Köpfen in den eigenen Schwanz und läßt ab von dir. Dann fängt sie sich mit Wollust in den eigenen Netzen und begeht mit einem Hochgefühl, daß alles bis in letzte Konsequenz seine Ordnung habe – Harakiri. Und du darfst unbehelligt nach Hause gehen. Du, der Drachentöter, Sohn Siegfrieds, der deutschen Lichtgestalt.
Irrtum! Wenn schon, dann killen sie sich selbst. Von eigenen Gnaden. Und nennen das ganze einen Rechtsstaat.
Viel ist gesagt und geschrieben worden über dieses abstruse Monstrum, das in seinem Wahn, alles bis ins Kleinste zu regeln, oftmals zu einem Monument der Skurrilität degeneriert. Wir wollen dem keinen weiteren Sermon hinzufügen.
Natürlich verkennen wir nicht das Bemühen und die Absicht, die dahinter steckt. Es soll dem Mißbrauch, der Ungleichbehandlung und der Willkür ein Riegel vorgeschoben werden. Zuviel davon hat es in deutschen Landen schon gegeben.
Doch alles mit Maßen! Die Dosis macht das Gift, pflegte der große Paracelsus schon zu sagen.
Und ein Zuviel ist an dem Punkte erreicht, an dem ein Papier, das einem Beschuldigten zur Entlastung respektive Rechtfertigung dienen soll, von vornherein dem Papierkorb geweiht ist. Weil „menschliche“ Erwägungen keine Rolle mehr spielen. Weil das Ziel von Anfang an klar definiert ist: Es geht hier seit langem nicht mehr um Verkehrserziehung oder Unfallprävention, sondern um Geldeinnahme zu Gunsten völlig verschuldeter öffentlicher Haushalte. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Beträge aus Bußgeldquellen schon fest in den Landeshaushalt eingeplant werden und die Wegelagerer im staatlichen Auftrag schon mit entsprechenden Maßgaben an ihre Einsatzorte befohlen werden. Einsatzorte, die oftmals einer gewissen Tücke nicht entbehren.
Die Wut der Bevölkerung kehrt sich dann ungerechterweise gegen die Vollstrecker, die meist auch nur arme Schweine sind. Nein, das ganze ist ein Politikum.
Wäre die deutsche Nachkriegswirtschaft nicht so gründlich in den Dreck gefahren worden, könnte man es sich spielend leisten, mit erzieherischem Ziel auf die Kraftfahrer einzuwirken, ohne Haß und Trotz und ein „nun-erst-recht-Gefühl“ entstehen zu lassen. Aber man braucht die Kohle. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Deshalb läßt sich mit deutschen Behörden weniger reden als mit einem sizilianischen Mafia-Patron.
Sie brauchen keine verantwortungsvollen Verkehrsteilnehmer, sie brauchen zahlende Verkehrsteilnehmer. Der Rest ist weihevolles Geschwätz und Geseier aus dem Märchenwald.
Würden die Auftraggeber der Abkassierer aus dem Straßengraben auch nur im Mindesten den mit maßloser Heuchelei vorgetragenen, edlen Zielen genügen, so hätten wir alles Verständnis der Welt. Ein Gemeinwesen kann nur mit Gesetzen bestehen, auf deren Einhaltung auch mit unerfreulichen Maßnahmen geachtet wird. Wenn diese Sanktionen gesetzeswidrigen Verhaltens jedoch mehr und mehr den Charakter einer nicht deklarierten, heimlichen Steuer annehmen, was durch die Art und Weise des Kassierens des öfteren zutage tritt, so entwickeln wir hinwiderum Verständnis mit unserem gepeinigten Schriftleiter und all seinen Leidensgenossen, die jenen moderne Raubrittern die Pest an den Hals wünschen.
Denn es ist ein inakzeptables Ungleichgewicht in der Gesellschaft, wenn eine Bande von Nieten im Nadelstreifen die Deutschland – AG systematisch ins ökonomische Abseits fährt und dafür mit hohen und höchsten Abfindungen beehrt wird, während gleichzeitig die Masse der Menschen die Folgen dieses Globalversagens in jedwedem Bereich ihres Lebens zu tragen haben.
Unsrer Schriftleiter mag seine Schwächen haben, ein gottloser Raser ist er nicht! Für Leute wie ihn hätte eine elektronische Warntafel: „Sie fahren gerade 27km/h schneller als erlaubt!“ gereicht. Aber gerade das ist eben nicht der politische Wille eines Landes, dessen Staatsdevise nur noch lautet: „Regeln und Kassieren!“ Es ist ein armes Land – und das in mehrfacher Hinsicht. Das Savoir vivre, das „Leben und leben lassen“ der südlichen Länder hat es nicht über die schneebedeckten Pässe der Alpen geschafft. Insofern weiß ich, daß der Herr Schriftleiter mich insgeheim um meine sizilianische Heimat beneidet. Trotz oder gerade wegen der Mafia. Denn unsere Mafia ist wenigstens eine „ehrenwerte Gesellschaft“.

2. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004