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Die Rede des Johannes Rau
B. St. Fjøllfross
Der Bundespräsident hat gesprochen!
Wie schön! Es ist doch etwas wunderbares um so ein repräsentatives
Staatsoberhaupt, seit wir keine gekrönten Monarchen mehr unser eigen
nennen. Selbst Schuld! Wir haben’s ja nicht anders gewollt.
Aber, damit wir nicht ganz so dekapitiert dastehen, wurde das ziemlich
saft- und kraftlose Amt des Bundespräsidenten installiert. Die Vaterfigur,
die zwar nichts mehr zu bewegen vermag, höchstens noch abzunicken,
der aber von Zeit zu Zeit gestattet ist, den moralischen Zeigefinger zu
heben.
Das tat er jüngst, der Bundesvater. Er mahnte eine neue Ethik an.
Eine Ethik, die der sich ändernden Wirtschaftsstruktur Rechnung tragen
solle. Eine Ethik, die unter den sich verschärfenden Bedingungen
der globalisierten Wirtschaft diejenigen nicht völlig unter die Räder
kommen läßt, die nicht Schritt halten können. Die materiell
und geistig Armen nämlich.
Das ist alles sehr ehrenwert. Und es ist vollkommen blödsinnig. So
blödsinnig, daß man sich fragt, ob das Deutsche Volk denn nun
wirklich davon abhängig ist, sich die Fata Morgana eines großen,
weißen Märchenonkels in Gestalt eines Bundespräsidenten
zu leisten. Einer hochbezahlten Überfigur, die nur noch dazu taugt,
Gutenachtgeschichten zu erzählen. Einer allmächtig wirkenden,
dem irdischen Dasein entrückten Vaterfigur, die stellvertretend für
den imaginären Lieben Gott in den Wolken, im Schlosse Bellevue thront
und darüber wacht, daß man die Geschundenen dieses Landes nicht
zu sehr auspresse.
Was nun wollte Herr Rau, der amtierende Präsident, denn nun? Worum
ging es in seiner Rede? Zunächst einmal stellte er fest, was wir
alle wissen: Daß nämlich das Kapital dabei ist, die Ära
der Nationalstaaten in die Archive der Geschichte zu versenken. Nationale
Grenzen werden in den internationalen Kapitaltransfers schon seit langem
aufgehoben. Um die unterschiedlichen Rechtslagen der noch auf dem Papier
existierenden Staaten kümmern sich ortsansässige juristische
Abteilungen und Steuerfachleute. Ansonsten verlaufen die neuen Grenzen
nicht mehr entlang irgendwelcher Flußläufe oder Landmarken,
sondern zwischen den einzelnen Automobil- oder Waschmittelkonzernen, Ölmultis
oder Pharmariesen.
Selbst die Kriegsschauplätze haben gewechselt. Weg von den blutigen
Schlachtfeldern der Vergangenheit – hin zu den sauberen aber eiskalten
Vorstandsetagen. Sieger und Besiegte verstümmeln einander nicht länger
mit Schwert und Armbrust – sie übernehmen das Reich des Besiegten.
Die Unterlegenen verlieren ihre Aktienwerte und damit einen Teil ihres
Vermögens, oder ihre Arbeit und damit einen Teil ihrer Existenz.
Der Herr Bundespräsident beliebten das so auszudrücken: Kapital
und Arbeit begännen sich voneinander zu trennen. Und eben dieser
Umstand verlange nach einer neuen Ethik.
Ja, um Gottes Jesu Willen! Was denn für eine Ethik? Vernahmen wir
da die Stimme aus Wolkenkuckucksheim? Auf welcher Erde ist dieser Gutmensch
zuhause? Die Beherrscher des Kapitals mögen sich so manchen Luxus
leisten. Ethik aber gehört zu den Artikeln, die selbst ihnen zu teuer
ist. Denn das Kapital kennt keine Ethik. Es kennt nur das Streben nach
Profitmaximierung! Es kennt das: Ich oder Du. Dazwischen ist nicht einmal
ein Ängström Raum für irgendeine wie auch immer geartete
Ethik. Es gibt kein Fairplay untereinander und schon gar keines für
irgendein anonymes menschliches Beiwerk, das für die Durchsetzung
der Interessen des jeweiligen Molochs „Kapital“ nicht eben
unentbehrlich ist.
Das von den alten Hellenen prognostizierte „Eiserne Zeitalter“
hat uns eingeholt.
Die Bundesrepublik Deutschland, einst einer der reichsten Nationalstaaten
der Erde, versucht als Staat noch ein paar Aufgaben für seine Bürger
wahrzunehmen. Das gelingt von Jahr zu Jahr weniger. Nicht nur, weil in
diesem Jahr während der fetten Zeit der Nachkriegskonjunktur erbarmungslos
aus dem Vollen, auf Pump und über alle Verhältnisse gewirtschaftet
wurde, sondern weil die, wo noch vorhandene, moderne ortsansässige
Industrie ohne mit der Wimper zu zucken mit Wegzug und Aufgabe des Wirtschaftsstandortes
Deutschland droht, wenn der staatliche Fiskus die Steuerschraube zu hart
anziehen sollte.
Und wenn die Industriemagnaten diesen Schritt mit Zwängen begründen,
die sich aus dem internationalen Wettbewerb herleiten, dann haben sie
damit nicht einmal unrecht.
Wir stellen also fest, daß die öffentlichen Mittel von Jahr
zu Jahr knapper werden. Und wer soll jetzt also für die sozialen
Belange der Bundesrepublik finanziell aufkommen? Coca Cola etwa, mit Sitz
in Atlanta? VW oder Schering?
Die sind an den Deutschen nur als Konsumenten ihrer Produkte interessiert.
Und wenn die Deutschen mangels Dollars im Portemonaise nicht mehr konsumieren
können, wie die Mehrheit der Neger in Afrika oder der Kulis in Asien,
oder der Favelabewohner von Süd-Amerika, na dann fallen sie eben
vom Tellerrand. Fertig!
Oder sollte es tatsächlich ein paar Träumer geben, die da glauben,
die Deutschen würden geschont, weil ihre Voreltern doch solche Kulturträger
gewesen sein?
„Vae victim!“ dröhnten die römischen Legionen. „Gnade
Gott den Besiegten!“ Das gilt nach wie vor. Nur daß das Sterben
der Besiegten zu Zeiten der blutigen Kriege vergleichsweise schnell und
schmerzlos vor sich ging: Ein Schwert in den Bauch, oder, wenn’s
dicke kam, Hütte abgebrannt und Vorräte geklaut – Hungertod!
Heute zieht sich das Theater weitaus mehr in die Länge. Sozialer
Abstieg, Verelendung, Massenarbeitslosigkeit, innere wie äußere
Verödung.
Die paar Hanseln, die diesen Prozeß begreifen, werden ihn nicht
ändern. Nicht die militanten Steinewerfer von Genua, der „Landbote“
nicht mit seinen Artikeln und nicht seine Eminenz der Herr Bundespräsident
mit seinen weihevollen Reden.
Denn dieser Prozeß entspricht dem Nackten Affen und allen Gesetzen
der evolutionsgelenkten Natur. Er ist ehern. Und er duldet ähnlich
wie ein Naturgesetz keinen Aufschub. Ich oder Du! Und der sich als Stärkster
erwiesen hat, hat das Privileg erworben zuletzt zu verrecken. Am Doomsday
nämlich, wenn alle Energieressourcen aufgebraucht sind und sich selbst
die Milliardenvermögen von Gates und seiner Microsoft Corporation
in Wohlgefallen auflösen, weil man für alle Milliarden der Welt
nicht ein Stück Braunkohle, nicht einen Tropfen Öl mehr kaufen
kann. Das ist das unabänderliche Schicksal unserer menschenbewohnten
Welt. Alles andere ist „Fantasy“ – genau wie die Ethikrede
des Johannes Rau!
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