Aufkleber und Psychogramme
B. St. Fjøllfross
Im Straßenbild deutscher Städte gehen die Litfaßsäulen
immer mehr zurück. Sie sterben aus. Gelernte DDR-Bürger kannten
sie noch als Informationsträger, die sie nicht mit sinnloser Werbung
zuballerten, sondern wirklich über Ereignisse in der Stadt, Theaterspielpläne,
Apothekenöffnungszeiten und dergleichen mehr in Kenntnis setzten.
Die Säulen als solche mag es noch hie und da geben, ihrer eigentlichen
Funktionen jedoch gingen sie verlustig. Wie schade!
Doch einen Nachteil besaßen sie: Sie waren immobil! Das hatte
zwar wiederum den Vorteil, daß man sich besser an ihnen verabreden
konnte, die Hunde sie ungestört anpissen konnten, aber wenn man
etwas wissen wollte, mußte man sich schon zu ihnen hinbemühen.
Heute nun wurde die Litfaßsäule abgelöst von zweibeinigen
Informationsträgern und deren Vehikeln. Nein, die Rede ist nicht
von den Marktschreiern und Herolden alten Zuschnitts. Auch berichtet
die zur Schau getragene Information dieser Zeitgenossen wenig wirklich
Interessantes – hier geht es meistenteils um deren eigenes Innenleben,
die Invarianten geltungssüchtiger Naturelle, die anscheinend unter
dem Zwang stehen, ihren Seelenstatus ums Verrecken in die Welt hinauszubrüllen.
„Hallo – es gibt mich! Ich bin noch da. Bitte, bitte, nehmt
mich zur Kenntnis!"
Aber wenn sie in der S-Bahn sitzen, und ihr Mobiltelephon läutet
mit einer verstümmelten Version von Händels „Te Deum“
oder Mozarts „kleiner Nachtmusik“, dann getrauen sie sich
nicht, ihren geheiligten Namen der Öffentlichkeit kundzutun. (Ein
wertkonservatives Blatt wie der „Landbote“ zählt es
immer noch zu den unumstößlichen Forderungen der Höflichkeit,
seinem Gegenüber mit offenem Visier entgegenzutreten und sich bei
Abnahme des Telephonhörers mit seinem Namen zu melden, wie wir
auch erwarten, daß sich der Anrufer bei uns vorstellt, ehe er
sein Anliegen zum Vortrag bringt.) Dann hören wir bestenfalls ein
„Hallo?“, „Ja?“, „Ja, bitte?“ oder
was dergleichen Gestotter mehr ist. Im selben Augenblick jedoch verkündet
das über der straff gespannten Jungmädchenbrust gespannte
T-Shirt, daß es sich bei seiner Trägerin um eine „Zicke“
handelt. Oder bei dem kräftigen Kerl gegenüber um einen Fan
von Bayern München mit einem Hang zu Schumachers Ferrari-Stall,
wie das Basecap ausweist.
Er ist bestimmt derselbe, der auf seinem LKW den feinsinnigen Aufkleber
mit der Aufschrift: „Damen, aufgepaßt! Meiner ist 18m lang!“
spazierenfährt.
Da er der Welt mitteilen möchte, was für ein treusorgender
Familienvater er ist, wird der Heckspoiler seines Golf GTI von einem
stilisierten Säugling mit überdimensionierten Wasserkopf geziert,
der entweder frech mit einem Nuckel bewaffnet oder schlafend dem Nachfolgeverkehr
verkündet, daß Vorsicht angebracht sei, weil Sönke-Fabian
mitfährt.
Sönke-Fabian kann mit Recht stolz auf seinen Papa sein, den wir
mal entsprechend seiner Meldung am klingelnden „Handy“ Herrn
Hallo nennen wollen. Denn Papas Wagen ist ein „Sex-Zylinder“.
So jedenfalls wollen es uns die sechs Karnickel auf dem Aufkleber suggerieren,
die unter dem Hutablagen-Wackel-Dackel in Reihe geschaltet ihren potenten
Begattungsbemühungen nachgehen – ein jedes von einem Zylinderhut
bekrönt. Ei der Daus, wo der Alte bloß diesen „Supi-Aufkleber“
aufgerissen hat! Wie originell! Wir sehen es und gähnen müde:
Drei von den Schlurren, die Herr Hallo fährt, mögen vielleicht
zusammengenommen auf sechs arbeitende Motor-Zylinder kommen –
aber warum zum Teufel klebt sich Herr Hallo diesen Unfug an seine fahrende
Werbefläche und verkündet damit aller Welt, daß er den
geistig Zukurzgekommenen zuzurechnen ist?
Er will sich abheben von der grauen Masse. Etwas Besonderes will er
sein. Sich distinguieren mit dem doppeldeutigen Witz, der aber unterschwellig
an jeder Stelle auf die Stärke und Potenz seines Zurschauträgers
hinweisen soll. Das ist alles gar nicht so halbernst gemeint, wie es
auf den ersten Blick aussieht. Herr Hallo würde sich mit Sicherheit
kein T-Shirt überziehen, keinen Aufkleber aufs Auto heften, kein
Base-Cap tragen, auf dem die Botschaft formuliert steht: „Helft
mir, ich bin schwachsinnig!“ oder: „Ich bin zwar nur ein
dummer Proll, aber was gäbe ich darum, einen Ferrari fahren zu
dürfen. Leider reicht es hinten und vorne nicht!“
Und auch die „Zicke“, die sich gerade erhebt, um die S-Bahn
zu verlassen, würde kaum den reellen Hintergrund ihrer Selbstbeschreibung
auf das Hemde drucken lassen – abgesehen davon, daß sich
soviel Text auf dem bißchen Linnen gar nicht unterbringen ließe.
Muß doch der erotisch gepiercte Bauchnabel frei und sichtbar bleiben.
Denn wenn man „zicken“ will, funktioniert das nur, wenn
man auch wahrgenommen und angebaggert wird. Und genau darum geht es
ihr, der kleinen Göre mit dem großen Loch im Selbstwertgefühl.
Ja, Aufmerksamkeit wollen sie erregen, einmal im Rampenlicht stehen
und bewundert, begehrt und beneidet werden, wie die paar Glückspilze,
die ihnen täglich in der TV-Blödelröhre vorgeführt
werden. Nur ein kleines Stück vom großen Kuchen wollen sie,
die nicht mal den Mumm besitzen, sich mit ihrem einen unverwechselbaren
Namen zu melden, wenn das Funktelephon in ihren Taschen klingelt.
Liegen wir falsch mit unserer These? Vielleicht karikieren wir ein wenig
zu stark – aber der Kern bleibt wahr. Warum sonst sausten die
Finger der „Zicke“ unentwegt über die Tasten ihres
Mobiltelephons. Sie schrieb SMS am laufenden Band, um dann ihren Korrespondenten
am anderen Ende der Leitung doch noch direkt anzurufen. Es war zwar
eine erregte Diskussion, aber das ist nebensächlich! Der Kontakt
durfte nicht abreißen! Kontakt um jeden Preis, am besten rund
um die Uhr. Wir kennen dieses Verhalten aus den Affenrudeln. Sie müssen
einander ständig vergewissern, daß sie noch ein Teil der
Gemeinschaft sind, in der einzig Schutz und Wärme erhältlich
sind. Sie sind im Innersten unsicher. Hier fehlt die natürliche
Nestwärme, die stabile Gefühlswelt, die innere Ausgeglichenheit,
der ruhende Kern. Keine der Botschaften, die in Form von Nasenringen,
T-Shirts oder Aufklebern an die Umwelt ausgesandt werden, ist ein Kind
des Zufalls! Diese armseligen wandelnden Litfaßsäulen in
eigener Sache decken in unmißverständlichen Signalen ihr
Psychogramm auf, das sie im Klartext nicht mal der eigenen Mutter anvertrauen
würden. Sie verstecken sich gleichzeitig hinter der oftmals eindeutigen
Doppeldeutigkeit und lassen sich mit ihrer Hilfe ein Hintertürchen
offen: „Ist doch nur ein Jux!“ Nein, das ist es in den seltensten
Fällen.
So wie man sich beispielsweise oft sehr deliberiert kleidet, um ein
bestimmtes Weltbild oder Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen.
Man trägt „Trauer“, um den anderen Mitmenschen zu signalisieren,
daß man einen lieben Menschen verloren habe. Man trägt Anzug
oder große Garderobe, um beispielsweise seinen Gegenüber
zu ehren. Man hat kleine Quietscheentchen auf dem Binder, der von einer
Porsche-Krawattennadel fixiert wird, um sich als Parvenü auszuweisen.
Man trägt Base-Cap, „Entenschnabel“ nach hinten oder
seit neuestem schräg zur Seite, um besonders cool zu wirken. Und
immer, immer soll eine Zugehörigkeit demonstriert werden. Entweder
zur Masse, oder zu einer Gruppe, die sich in Opposition zur Masse profiliert.
Das geht nahtlos weiter mit den Automobilen, die mit den Umrissen der
Nordsee-Insel Sylt beklebt werden, des Eilandes der Reichen und Schönen.
„Seht her, ich war dort und gehöre also eigentlich dazu.“
Die erwähnten Aufkleber der Fußballklubs, die mit etlichen
im Automobil verteilten Devotionalien konzertieren, werden dem modernen
Krieger vorangetragen, wie die Feldzeichen vergangener Zeiten: „Positionier
dich, Mann, laß uns entweder im Chor grölen oder uns gegenseitig
die Fresse polieren!“
Für die „Zicke“ wird’s ein innerer Vorbeimarsch.
Denn wenn sich zwei Gorillamännchen in die Haare bekommen, so geht
es doch letztendlich immer nur um sie, das umworbene Weibchen, um das
Begattungsvorrecht. Wofür sonst sollten die Männchen trachten
ihre Männlichkeit zu demonstrieren, ein Revier abzustecken, zu
erobern und hernach zu behaupten, wenn nicht darum, dem Weibchen einen
Platz zu schaffen, wo sie ihre Brut gebären und aufziehen kann?
Und sie wird sich nicht billig verkaufen! Man kann es jederzeit und
für alle sichtbar zwischen den knospenden Brüstchen lesen.
Sie will erobert werden, damit sie auch hinterher die Fäden in
der Hand behält und der Eroberer nicht gleich wieder dem nächsten
Hühnchen nachstellt. Denn wer leicht und willig ist, verliert bald
jeden Reiz, nicht wahr?
Natürlich wird den hier beschriebenen Personen eine solche Philosophie
nicht unterstellt. Diese Strategie läuft auf einer empirischen,
sagen wir fast unterbewußten Ebene ab.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, es ist hier nicht die Rede
von professioneller Werbung, die man einem breiten Publikum vorführt,
um ein Produkt oder eine Dienstleistung bekannt zu machen. Und natürlich
ist uns auch nicht daran gelegen, die Mechanismen ins Lächerliche
zu ziehen, die im Allgemeinen hinter solchen Entäußerungen
menschlichen Schwachsinns stehen. Diese sind alleine schon durch die
allgewaltige Mutter Natur legitimiert. Jede Blume, jeder Pfau oder Hirsch,
jeder Goldfisch und was dergleichen Mitkreaturen mehr sind, werben oder
drohen mit optischen oder olfaktorischen Signalen; kämpfen auf
ihre Art um ihren persönlichen Erhalt und damit das Fortkommen
ihrer Spezies.
Nur die Nackten Affen, die des Dezenten abhold sind, versuchen mit einer
ins Skurrile gesteigerten Geltungssucht ihresgleichen zu beeindrucken.
Und was da prätendiert wird, hat mit der Wahrheit oft nicht viel
zu tun. Es zeichnet nur eben ein um so genaueres Bild von dem Menschen,
der sich dieser Entäußerungen bedient. Wer aber dieses Bild
zu lesen versteht, ist von solchen Zeitgenossen kaum mehr zu täuschen.
Das hinwiderum halten wir für einen entscheidenden evolutionären
Vorteil. Die Schlechten ins Kröpfchen… ehe sie uns auf unsere
Kosten überrumpelt oder eingewickelt haben.