Begegnung von Himmel und
Hölle
Kloster-Klang-Welten mit dem Berliner ars-nova-ensemble
im Paulikloster
Michael L. Hübner
Die „ars nova“, die
„Neue Kunst“ war eine Musikrichtung, die sich im frühen
14. Jahrhundert in Frankreich im Gegensatz zur älteren „ars
antiqua“ entwickelte. „Ars Nova“ nennt sich das Berliner
Chorensemble, welches am Sonntagabend im Pauli-Kloster im Rahmen der
Kloster-Klang-Welten Werke für Chormusik aus 650 Jahren europäischer
Musikgeschichte zur Aufführung brachte. Glockenklare, geschulte,
hochprofessionelle Stimmen – keine Frage! Selten aber erlebten
die Mauern der Dominikanerkirche St. Pauli ein solch enges Nebeneinander
von Himmel und Hölle, zwischen Paradies und danteskem Inferno,
großartiger Musik der Alten und neuzeitlichen Kompositionen, welche
die Leidensfähigkeit des Publikums auf das Äußerste
strapazierten. Das Ensemble unter Leitung Sabine Wüsthoffs gesellte
in stetem Wechsel einem Stück der späten Gotik, der Renaissance
oder des frühen Barocks jeweils ein Werk eines zeitgenössischen
Komponisten zu. Die Kontraste konnten nicht größer sein,
es war ein Wechselbad der Gefühle. Engelsstimmen, welche Werke
des göttlichen Palestrina oder des ungekrönten Königs
der ars nova, Guillaume de Marchauts zum Vortrage brachten, erlösten
gemarterte Ohren von einem widernatürlichen Gebell, Gehechel, Gezische,
Gequieke und Geschnatter, welches nur vom vereinzelten leisen Stöhnen
einiger Zuhörer begleitet wurde. Es wird wohl das Geheimnis zeitgenössischer
Tonsetzer bleiben, warum sie auf solchem Kriegsfuß mit den elysischen
Gesetzen der Harmonie komponieren. Halten sie die harmonischen Gefilde
für abgegrast? Müssen sie sich um wirklich jeden Preis von
der Tonkunst der Alten absetzen? Wurden die ersten Stücke der Gegenwart
noch von manchem der etwa 60 Zuhörer gequält belächelt,
so griff bei Yannis Xennakis „Pour la Paix“ (Für den
Frieden) Kopfschütteln und verständnislose Lähmung um
sich. Das war keine Ode an den Frieden. Das war eine Waffenscheinpflichtige
Kriegserklärung an die menschliche Sehnsucht nach Schönheit
und Harmonie! Johannes Quints Stück „Ferne“ wiederholte
in wahrhaft apokalyptischer Manier dieses Wort „Ferne“ minutenlang
in allen Tonlagen aus den Mündern sämtlicher Choristen und
weckte derweil die unwiderstehliche Sehnsucht nach ebendieser: Weg von
hier, nur weg! Musik will wie jede Kunst verstanden werden! Seit dem
Zwanzigsten Jahrhundert aber scheint sie sich bei einigen Vertretern
der kritzelnden und Farbenklecksenden „Malerei“ untergehakt
zu haben, um der postmodernen Menschheit akustische und visuelle Keulen
um die Ohren zu hauen. Ein Vorteil aber soll nicht unerwähnt bleiben:
Bemerkt man bei den ausgefeilten Kompositionen der Alten sofort, wenn
ein Sänger den Wert einer Note um ein My verfehlt, wenn er um eine
Hundertstel Sekunde zu spät einsetzt – den Interpretationen
neuzeitlicher Werke kommen wohl nicht einmal Spezialisten so leicht
auf die Schliche!
Ein zauberhafter Giovanni Gabrieli setzte dann mit „et in terra
pax“ („und Friede auf Erden“) den ebenso kunst- und
reizvollen, wie versöhnlichen Schlussakkord. Das Publikum klatschte
kräftig aber unsicher. Der Applaus ging mehrheitlich an die wunderbaren
Stimmen und den beinahe makellosen Vortrag. Eine Zugabe aber wollte
wohl kaum jemand riskieren: Zu unsicher war, für welche Musikepoche
sich der Chor entscheiden würde.
Die Vorstellung zeigte einmal mehr den Unterschied zwischen den Intentionen
der Alten und denen der neuzeitlichen Musiker: Spürten Männer
wie Giovanni Gabrieli, Georg Rhaw, Palestrina oder Marchaut noch dem
Geheimnis des Wohlklanges nach, um mit ihrem Lob der Schöpfung
ihres Gottes und deren göttlicher Harmonie so nahe wie möglich
zu kommen, übertreffen sich viele Zeitgenossen in der Entfaltung
eines wahren furor musicae und wundern sich hernach, dass ihnen in Vorankündigungen
und Begleitheften das Attribut „wenig bekannt“ beigegeben
wird. Wie sollte man sie auch kennen? Ein Feuerwerk von Missklängen,
Dissonanzen und atonalen Überfällen auf jede Ohrgefällige
Ästhetik wird die wenigsten Normalsterblichen bewegen, sich mit
Werken zu befassen, die man getrost als unerlaubte Mittel zur Wahrheitsfindung
klassifizieren könnte. Denn während ein älterer Herr
bemerkte: „Das Ganze weitere zehn Minuten und ich hätte den
Mord an Kennedy gestanden…“ wand sich ein kleiner Junge,
der noch den Klängen Palestrinas mucksmäuschenstill lauschte,
bei Wolfgang Rihms „Quo me rapis“ aus dem Jahre 1990 zunächst
auf dem Schoß seines Vaters, dann auf dem Fußboden der Läutkirche.
Diesen kleinen Mann mochte Hans Christian Andersen im Sinne gehabt haben,
als er „Des Kaisers neue Kleider“ schrieb...